1. September 2009

Zurück in den Turm

 

Wenn die Leute früher einmal in den zumal deutschen Wäldern spazieren gingen oder vielleicht auch ein wenig herumstreunten, haben sie das gewiss nicht als revolutionäre Tat verstanden oder zu verstehen geben wollen. Es war im Gegenteil das Systemkonformste, was man sich vorstellen konnte. Dieses millionenhaft ausgeübte harmlose Handeln wurde in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts von einer kleinen, ständig sich neu zusammensetzenden Gruppe vom Land und der Provinz in die Stadt versetzt und als revolutionäre Übung apostrophiert.

 

Wer hat diese Leute damals eigentlich gesehen, es waren ja kaum mehr als 80 über den gesamten Erdball verstreut, denn es war eine Gruppe, die sich die „Situationistische Internationale“ nannte. Und was haben die Gruppenmitglieder während des Herumschweifens gemacht, wenn sie ständig damit rechnen mussten, dass das, was sie taten und sagten, dem Oberguru der SI, Guy Debord, nicht gefiel? Wird so erfolgsorientiert Enthusiasmus abgeschöpft oder nicht vielmehr frühzeitig eine paranoide Stimmung kreiert, die als Ausweg bisweilen nur den Suizid kannte oder eine durchwachsene Melancholie? Warum hat es Guy Debord nicht zu einem gesamtgesellschaftlichen Vorsteher gebracht, wo er doch alle Wahrheit auf seiner Seite glaubte?

 

Kulinarisch gesprochen konnte Debord ausgezeichnet Hühner rupfen, allerdings war es ihm verwehrt, eine anständige Massenmahlzeit zu organisieren. Auf dem Gipfel seiner Tätigkeit im Außendienst, während der Unruhen der Studenten in Paris, sei er ganz nah dran gewesen, am Umschlagpunkt, wo das Falsche ins Wahre kippt und die Tafel bereit steht für Neues. Aber irgendwie hat es dann doch nicht geklappt. Aber was hat nicht geklappt? Das weiß man heute immer noch nicht. Jedenfalls blieb die Revolution aus und eine gewisse Ernüchterung machte sich breit. Man kann mit Luhmann sagen, dass mit 68 kein Drehpunkt verbunden ist, die Gesellschaft blieb genauso organisiert, wie sie es auch schon vorher war. Um so besser ließ sie sich dann beschreiben. Ganz ohne die Verwendung des Terminus „Spektakel“, denn Luhmann ist, anders als Debord, kein Romantiker.

 

Debord lässt sich prima als „subjektiver Okkasionalist“ beschreiben, also als Romantiker im Sinne des frühen Carl Schmitt, der damit die bodenlose Haltung verband, etwas immer nur als Anlass für etwas anderes begreifen zu können. Debord wäre genauer als schwarzer Romantiker zu sehen, als jemand, der immer nur negativ okkasionalistisch sagen kann, dass es „das“ nicht sei, wobei hier eine direkte Nachbarschaft zu Jacques Lacan sich auftut, der in der Verachtung der „Gesellschaft“ Debord in nichts nachstand und den Leuten insgesamt ein falsches Begehren unterstellte. Wenn also gesellschaftlich im Großen nichts mehr geht, was bleibt dann noch zu tun? Wenn man nicht mehr Lenin spielen kann? Wenn das Proletariat kein Ansprechpartner mehr ist (für was auch) und die Umdeutungen eines neuen Proletariats im semantischen Krampf enden? Dann ist man vielleicht nicht mehr der Motor, die Avantgarde des Fortschritts, aber man kann sich als denjenigen gerieren, der so ziemlich als einziger Bescheid weiß.

 

Hierzu braucht es das Geheimnis, das romantisch Mysteriöse, denn natürlich kommt die okkasionalistische Struktur in diesem personalen Modell des einzig Eingeweihten wieder voll zum tragen. Was man sieht, ist nicht das, was es wirklich ist, es gibt Filter, es tauchen Vorhänge auf, vorgeschützte Figuren, hinter denen sich andere, wohl die „wahren“ Dramen abspielen. Von Aufbruch und Erlösung (von der schlechten Gesellschaft) ist beim späten Debord keine Rede mehr. Hier hat sich jemand ganz auf die Beobachterposition zurückgezogen, ohne allerdings die Komplexität des „zweiten Beobachters“ in ihrer vollen erkenntnistheoretischen Desillusionierungs-Kapazität zu bedenken. Man hat das Gefühl, dass es einzig darum geht, auf der richtigen Seite zu stehen, auch wenn sich, befände man sich auf ihr, daraus gar nichts ergäbe.

 

Jörn Etzold stellt in seinem Buch, das aus einer Dissertation hervorging, Debord weniger als Politiker vor denn als Künstler, auch wenn Debord je länger je weniger Künstler schätzte. Die waren ja genauso ins Spektakel „integriert“ wie die anderen auch. Debord also als Lebenskünstler? Der sich nicht behaglich in der Gesellschaft einrichtete, um in ihr zu spielen, sondern die Gesellschaft so ausrichtete, dass er mit ihr spielen konnte? Wenn man mit der Gegenwart nichts mehr anfangen kann, eilt man entweder fort in die zugegeben noch etwas unbestimmte Zukunft, oder man schaut, was die Vergangenheit an Kostbarkeiten bereit hält. Stichwort Klassik. In der Klassik befindet sich das Gerüst der Wahrheit. Es stellt den einen Teil des schon von Baudelaire so beschriebenen Kunstwerks dar, dessen anderer Teil sich dem Augenblick verdankt, dem „Schaum der Tage“. Wer sich nach Debord nur dem Augenblick widmet, der „schlechten Unendlichkeit“, ist nichts anderes als Abschaum. Für einen vernünftigen (Lebens-)Kunstbegriff braucht es einen ökologischen Leser und Autor. Debord also als Alternative? Wohl kaum. Jemand muss ja auch ein bisschen arbeiten, die Devise, „niemals zu arbeiten“, bleibt dem Scharlatan. Für die, die sich scharlatanisieren lassen wollen.

 

Dieter Wenk (08-09)

 

Jörn Etzold, Die melancholische Revolution des Guy-Ernest Debord, Zürich-Berlin 2009 (Diaphanes)

 

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