21. Juli 2009

Die Seele der Architektur

 

Julius Shulman war der berühmteste Architekturfotograf. Er galt als der „one-shot-man“, der auf beeindruckende Weise sofort die richtige Intuition hatte, um ein Gebäude im richtigen Winkel und im richtigen Augenblick einzufangen. „Wenn Sie ein gutes Foto eines Hauses brauchen, fragen Sie nie den Architekten“, lautete seine eiserne Regel. Und so verstieß er mehr als einmal gegen die Wünsche seiner Auftraggeber, ihre Gebäude nach ihren Vorstellungen abzulichten – stets zu ihren Gunsten. Wer weiß, ob Richard Neutras „Kaufmann House“ in Palm Springs jemals derart berühmt geworden wäre, wenn es Shulman nicht im abendlichen Licht mit dessen Gattin am Poolrand fotografiert hätte. Oder ob Pierre Koenigs „Case Study House No. 22“ über seine fast schmuddelige Erscheinung bei Tageslicht hinausgekommen wäre, wenn nicht Shulman seine Nachtaufnahme davon gemacht hätte.

Das Shulman überhaupt fotografierte, war ein Produkt des Zufalls. Nach mehreren Studienjahren in Los Angeles und Berkeley ohne Abschluss lud ihn ein Assistent des Architekten Richard Neutra zur Besichtigung der gerade vollendeten „Kun Residence“ ein. Der damals 26-jährige Shulman, schon in der High-School ein leidenschaftlicher Fotograf, nahm seine Kamera mit und fotografierte das Haus nach Lust und Laune aus verschiedenen Perspektiven. Als Neutra die Bilder sah, war er derart begeistert, dass er Shulman bat, weitere seiner Bauten abzulichten. Auch wenn Richard Neutra den jungen Fotografen weiterempfahl, sollte er Shulmans wichtigster Auftraggeber und Anhänger bleiben; sein Werkverzeichnis ist nicht versehentlich ausschließlich mit Shulman-Fotografien gestaltet.

Schon bald erschienen die Arbeiten des jungen Fotografen in den wichtigsten Zeitschriften Amerikas. Er fotografierte die Häuser von Architekturgiganten wie Mies van der Rohe, Frank Lloyd Wright und Oscar Niemayer ebenso selbstverständlich, wie die Bauten der Granden des „California Modernism“, darunter neben Richard Neutra auch Rudolf Schindler, Craig Ellwood, oder Albert Frey. Sein Interesse galt aber nie den Architekten, sondern stets den Gebäuden, der Architektur in ihrem Wirkungsraum. Daher finden sich unter seinen abertausenden Fotografien auch zahlreiche von Gebäuden, die Architekten aus der dritten, vierten oder fünften Reihe entworfen haben.

Julius Shulman war nicht einfach nur der größte Architekturfotograf aller Zeiten, weil er ästhetisch eindrucksvolle Fotografien ablieferte, sondern auch, weil es zuweilen erst seine Bilder machten, die Architekten zu Ikonen werden ließen. Darüber hinaus galt er als Gründer einer Idee, die selbst wieder Baumeister inspirierte und Orientierung bot. Als Ausgangspunkt dieses architektonischen Grundgedankens kann man sein berühmtestes Foto „Case Study House No. 22“ heranziehen, das zugleich möglicherweise auch das bis heute am meisten abgebildete Architekturfoto überhaupt ist. Es zeigt ein hell erleuchtetes, scheinbar schwebendes Glashaus, dem das abendlich illuminierte Los Angeles zu Füßen liegt. Darin zwei engelsgleiche Wesen in weißen Cocktailkleidern.[1] Das Haus hatte der Architekt Pierre Koenig entworfen. Mit diesem 1959 entstandenen Bild gründete Shulman die Idee eines geradlinigen und edlen Lebensstils, ein Ideal namens „California Modernism“. Minimalistisch, aber anheimelnd.

Der Nachkriegs-Wohlstand in Südkalifornien machte die Region zum weltweiten Vorreiter der architektonischen Moderne. Die traumhafte Natur der Region, in die zahlreiche Bauten hineingepflanzt wurden, wusste Shulman auf seinen Bildern stets in Szene zu setzen. Die Natur und die häusliche Umgebung, all das Außen wirkten auf Shulmans Fotografien wie die Fortsetzung des Inneren. Architektur war nicht länger nur Haus- sondern zum großen Teil auch Lebensraumplanung. Shulman begriff dies als einer der ersten und wusste diesen Gedanken auf Zelluloid zu bannen.

Er war stets ein Praktiker und Pragmatiker, viel Aufwand war nie seine Sache. Ein Arbeitstier im quantitativen Sinne. Man sagt, er soll zuweilen täglich ein Haus sowie die dazugehörigen Interiors und Details fotografiert haben. Entstanden ist daraus das gigantische Archiv in seinem Haus in den Hollywood Hills, eine Kammer voller Aktenschränke mit Aufnahmen, Plakaten, Zeitschriften und Briefen. In diesem Fundus durfte Shulmans langjähriger Freund, Nachbar und Verleger Benjamin Taschen stöbern. Ergebnis ist die bisher umfangreichste Sammlung von Shulman-Fotografien, mit der der Betrachter die architektonische Moderne wiederentdecken kann. In drei Bänden und auf über eintausend Seiten veröffentlichte Taschen Dokumente von Shulmans Schaffen. Dreizehn Kilo schwer ist diese Prachtausgabe von „Modernism Rediscovered“. Stolze 250,- Euro kostet diese Sammleredition, die nichts weniger als ein voluminöses Denkmal in Buchform ist.

Eine Auswahl aus dieser Gigantenausgabe bietet nun eine Light-Version, die der Taschen-Verlag anlässlich seines 25-jährigen Jubiläums herausgegeben hat. Sie enthält zahlreiche Fotografien aus dem Fundus des Amerikaners. Bedauerlicherweise orientieren sich diese an der Bedeutung der Entwürfe für die Architekturszene jener Zeit, nicht an der Bedeutung der Fotografien für Shulmans Karriere. So registriert man schmerzhaft das Fehlen der bereits angesprochenen Shulman-Ikonen, Werke von Richard Neutra, Mies an der Rohe oder Frank Lloyd Wright (um nur einige zu nennen) fehlen völlig. Allerdings holt der Band einige der vergessenen und in die Schublade gelegten Aufnahmen wieder hervor und bietet so einen guten Überblick über die moderne amerikanische Architektur in den 50er und 60er Jahren.

Letztendlich ist es die Qualität der Fotografien, die überzeugen. Jede einzelne, ob in Schwarz-Weiß oder in Farbe, dokumentiert eindrucksvoll diese klare, geradezu von allen Störeffekten bereinigte Architektur des „California Moderism“. Zuweilen macht es den Anschein, als würden die klar strukturierten Bauten aus Glas, Stahl, Beton und Holz über dem Boden schweben. In ihrer Stabilität wirken die Bauten federleicht. Shulmans nahezu magischen Fotografien leiden kaum unter dem kleineren Format des Light-Bandes. Die Texte neben den Abbildungen sind dreisprachig und knapp gehalten. Sie umfassen die bekannten Randnoten zu Shulmans Leben und Wirken, Neues entdeckt man in ihnen nicht. Dazu braucht es eine kunsthistorisch-architektonischen Untersuchung, die seit Langem aussteht. Vorangestellt ist dem Band ein Essay des Architekten Pierluigi Serraino zur Fotografie und der amerikanischen Moderne – etwas ungewöhnlich für eine Werkmonografie, aber durchaus lesenswert.

Mit dem Aufkommen der amerikanischen Moderne in den 50er und 60er Jahren wurde die Welt kleiner, die Abstände kürzer, die Weiten flacher und in den USA vollzog sich die Urbanisierung des ländlichen Raums. Auch dieser Prozess wird in Shulmans Bildern greifbar, so dass er nicht nur als der Dokumentar der modernen Architektur gelten muss, sondern auch als Chronist der Transformation Kaliforniens zu einer sich pandemisch ausdehnenden ländlichen Stadt bzw. zur urbanen Prärie erscheint.

Julius Shulman wusste stets, was seine Auftraggeber von ihm erwarteten. In seinen Bildern ist daher nicht das Gebäude der Mittelpunkt, sondern es ist der Traum einer Lebensart, der Menschen dazu bringt, sich in Formen zu verlieben. Wenn, wie man sagt, die Augen eines Menschen die Tore zu seiner Seele sind, so sind Shulmans Fotografien die Tore, die uns in die Seele der Häuser blicken lassen, die sie abbilden.

Julius Shulman, 1910 als Kind zweier jüdischer Emigranten im New Yorker Stadtteil Brooklyn geboren, starb am vergangenen Mittwoch im Alter von 98 Jahren in Los Angeles.

 

Thomas Hummitzsch

 

Peter Gössel (Hrsg.), Serraino Pierluigi & Julius Shulman: Julius Shulman, Modernism Rediscovered. Auflage 25 Jahre Taschen. (Deutsch, Englisch, Französisch). Taschen Verlag. Köln 2009. 415 S. 19,99 €. ISBN: 3836503263.

 

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[1] Was damals niemand wusste: Die beiden Damen sind die Freundinnen seiner beiden Assistenten, die er bat, diese mitzubringen und sie zu bitten, ein weißes Kleid zu tragen.