28. Juni 2009

Ach!

 

Manche Schriftsteller lehnen durchaus nicht ab, in einer bestimmten Richtung wirken zu wollen. Aber Heinrich von Kleist hat natürlich nicht nur „Die Herrmannsschlacht“ geschrieben, die überdies erst 1821, also zehn Jahre nach Kleists Freitod, im Druck erschien und erst 1860 überhaupt zum ersten Mal gespielt wurde, als der eigentliche Anlass, gegen Napoleon aufzubegehren, schon lange vorbei war. Auch andere Texte Kleists teilten das Schicksal der Verspätung: So wurde „Penthesilea“ erst 1876 uraufgeführt (in einer bearbeiteten Fassung, die Uraufführung des Originals fand im Jahr 1892 statt), und der „Amphitryon“ gar wurde erst 1899 zum ersten mal gegeben.

 

Keine Frage, dass Kleist mit zahlreichen seiner Werke nicht so recht in seine Zeit passte, weder Klassiker (obschon mit Goethe konkurrierend), noch Romantiker (obwohl man ihn immer wieder auch als solchen sah), weder Populärschriftsteller (in Übersetzungen, nach Abzug der „Diktion“, blieb oft nur das Sensationelle, Schaurige, Brutale übrig), noch bloßer Geheimtipp für die „happy few“. Jede Zeit scheint aus dem überschaubaren und doch reichen Register „Kleist“ das jeweils Ihre zu entnehmen und auf sich selbst anzuwenden. Selbstverständlich wurde im „Dritten Reich“ kein anderes Stück des Autors landauf, landab so häufig gespielt wie „Die Herrmannsschlacht“, Kleist erhielt den wenig neidenswerten Titel, „erster nationalsozialistischer Dichter der Vergangenheit“ gewesen zu sein. Und „Michael Kohlhaas“ war als Titelfigur natürlich eine Vorwegnahme Adolf Hitlers.

 

Ein paar Jahrzehnte später, in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts, galt Kohlhaas entweder positiv als Identifikationsfigur der sich gegen die „Institutionen“ auflehnenden Linken (einschließlich RAF), oder schlichtweg als „Terrorist“ in ordnungspolitischer Sicht. Wenn man sich solche Vereinnahmungen, Besetzungen, Interpretationen, Wahlverwandtschaften oder wie man das immer nennen mag, anschaut, wird man nicht mehr nur dem sogenannten „Regietheater“ alles in die Schuhe schieben können. Wenn zudem ein Stück wie „Penthesilea“ in drei Fassungen vorliegt, hätte man an einem Aufführungsabend erst mal ziemlich damit zu tun, die Voraussetzungen zu klären, unter denen da eine Inszenierung zustande gekommen ist. Deshalb kann ja immer auch so schön, gerade im Theaterbetrieb, provoziert werden, weil da immer noch ein „Muster“ rumschwirrt, das noch nicht gefüllt wurde.

 

Das kürzlich erschienene „Handbuch“ zu Heinrich von Kleist, das zu „Leben – Werk – Wirkung“ Auskunft gibt, ist unverzichtbar für all die, die sich näher mit dem Schriftsteller beschäftigen möchten. Wenn auch hier Fragen offen bleiben (zum Beispiel zu der schon legendären „Würzburg-Reise“), dann liegt das einfach an der schmalen Quellenlage. Kleist wird zunächst als Person kurz vorgestellt (wo es eben auch um Fragen geht wie die, ob er ein typischer Romantiker war oder nicht, Stichwort: Zerrissenheit des Charakters etc.). Es folgt eine Editionsgeschichte, anschließend werden die einzelnen Werke vorgestellt, nach Gattungen geordnet. Literaturhinweise schließen die Besprechungen (die keine klassischen Interpretationen sind), ab. Schließlich kann man ganz gezielt Informationen entnehmen etwa zu bestimmten, im Kleist’schen Werk thematisierten Epochen und Autoren (also zum Beispiel Deutsche Aufklärung oder Wieland); ebenfalls erfährt man Wichtiges zum Wissen der Zeit, das also, was man heute die Codes oder Diskurse einer Zeit nennt. Einschlägig wären hier also Lemmata wie „Militärwesen“, „Recht und Justiz“ oder auch „Rhetorik“.

 

Eine weitere, mehr motivgeschichtliche Rubrik beschäftigt sich mit Konzeptionen wie: „Aufmerksamkeit“, „Körper und Körpersprache“, „Grazie“, „Wahn und Wahnsinn“ und „Zufall“. Schließlich werden noch die wichtigsten Forschungsansätze vorgestellt und ein Blick geworfen auf die doch sehr heterogene Rezeption sowohl im In- als auch im Ausland. Die von verschiedenen Autoren verfassten Artikel sind generell (gut) lesbar – man kann schon jetzt sagen: ein Standardwerk zu Heinrich von Kleist.

 

Dieter Wenk (06-09)

 

Ingo Breuer (Hg.), Kleist-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart Weimar 2009 (Metzler)

 

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