15. Juni 2009

Östliche Zumutung

 

Wenn man sich „einen noggert“, weiß man wahrscheinlich, was man will. Wenn aber nun von dem begehrten Etwas nur noch die Kühle und die Konsistenz übrig blieben? Oder aus „Capri“ würde eisgekühltes „Aqui“! Aus „Magnum“ ein Eis-Minimum! Kein Geschmack mehr, nur noch der von geschmolzenem Wasser! Wäre das nicht sehr enttäuschend? Würde denn überhaupt jemand auf die Idee kommen, hier den Versuch einer Einübung in Unbestimmtheit, Geschmacklosigkeit, Fadheit zu vermuten? Dann auch noch mit dem Ziel, diese zu loben? Eine „Lobrede auf die Fadheit“?

 

Man wüsste eigentlich nicht zu sagen, wie so etwas in den hier bekannten und geläufigen Kulturkreisen möglich sein könnte. Als einzelner würde man sich blamieren, wenn man überhaupt auffiele vor lauter Unbedeutendheit, als größere gesellschaftliche Einheit teilte man vermutlich ein Schicksal wie die Schweiz oder Schweden, in gewisser Hinsicht natürlich. Der westliche, engagierte Lebensstil steht nicht auf Fadheit, sondern auf Anreicherung, Steigerung, Perfektionierung, kurz: auf Kompetenz und Konkurrenz. Wo also wäre eine solche „Eloge“ nicht von vornherein der Lächerlichkeit preisgegeben? Im Osten, in China.

 

Und zwar nicht in dem uns heute bekannten, den Westen mit seinen eigenen Waffen schlagenden China, sondern in einem, so will es scheinen, lange vergangenen Reich, das aus der „Fadheit“ ein Grundprinzip von so ziemlich allem gemacht hat, in der Literatur (Lyrik), in der Musik (immer Kammermusik), in der Malerei (abgeklärte Landschaftsmalerei), in der Philosophie (reine Immanenz). Das Betreiben, das Durchspielen dieses Prinzips ist alles andere als kokett, denn wäre das so, wäre das Prinzip gar nicht verstanden worden. Fadheit ist nicht einfach nur ein Merkmal (der Merkmalslosigkeit) unter anderen, sie steht nicht am Anfang oder am Ende von Geschmacksbeschreibungen. Fadheit, so wie sie Konfuzianismus, Taoismus und auch Buddhismus begreifen, bildet ein Zentrum, ja: das Zentrum überhaupt. Wie das?

 

Im Denken und ästhetischen Verständnis Alt-Chinas steht Fadheit nicht in Opposition zu Fülle, Größe, Akzent, Kontrast, sondern sie bildet genau die Mitte, von der aus alle bestimmten Merkmale erreicht werden: „Die Fadheit ist dieser Geschmack des Virtuellen, die Kraft, sich zu entfalten und zu verwandeln, und als solche ist sie unausschöpfbar.“ Diese Vorstellung ist nicht ganz voraussetzungslos. Sie ist an das geknüpft, was auch im Westen nicht ganz unbekannt ist, nämlich die Vorstellung einer guten, weisen Natur, auf die es zu hören gelte, wer ganz bei sich bleiben wolle (Rousseau). Man mag vielleicht auch an Heideggers „sein lassen“ denken. So seltsam sich das auch in unseren Ohren anhören mag, ist die Ausrichtung an „Fadheit“ an das geknüpft, was als „authentisches Leben“ verstanden wird. Nicht der jeweilige Charakter, die besondere Tat, das sensationelle Kunstwerk werden geschätzt – denn diese verkürzen das Dasein dramatisch, weil sie in ihrem arroganten Auftritt glauben, die Welt mit sich selbst überschreiben zu können, und sei es nur für kurze Zeit.

 

Die Fadheit ist in Wahrheit die wohl raffinierteste Haltung, die es überhaupt gibt, denn sie braucht „nichts“, um die Welt sein zu lassen. Sie benötigt auch keine Gegenwelt oder Überwelt, nach der sie sich sehnt, weil sie ja nichts „hat“. Die Fadheit ist virtuell prall, denn sie schließt alles in sich ein. Sie braucht keine Symbole, um auf etwas hinzuweisen, denn wie keine andere Haltung vermag sie mit allem mitzugehen, wenn die Natur es denn gebietet. Diese Askese ist keine der Knauserei, sondern der virtuellen und von Mal zu Mal anzueignenden Fülle. Der Chinese ist der potenzielle Renaissancemensch. Seine Kraft ist extrem zurückgeschraubt, aber sie ist da, in jeder Faser, in jedem Strich, in jedem Gedanken. Fadheit, man muss es so sagen, ist ein anderes Wort für Harmonie; Gleichwertigkeit, es ist, politisch verstanden, ein radikal demokratisches Prinzip.

 

Man sollte deshalb nicht von Opportunismus sprechen, denn genau dieses Verhalten höbe die Fadheit wieder auf, da sie sich auf etwas Bestimmtes einlässt. „dan“ im Chinesischen heißt sowohl „Fadheit“ als auch „Abstand“ und steht somit auf beiden Seiten, auf der Seite des Subjekts als auch auf der Seite des Objekts, nur stehen sie sich nicht feindlich gegenüber wie fast stets im westlichen Denken. Das im Westen favorisierte Differenzdenken (noch bei George Spencer Brown: „Draw a distinction“) wird hier, also dort, in China, aufgebrochen und, wenn man so will: platt gemacht. Aus dieser Flachheit hat François Jullien ein wunderbares kleines Buch gemacht. Es ist keine Anleitung zur Nachfolge. Diese hätte hierzulande desaströseste Konsequenzen.

 

Dieter Wenk (06-09)

 

François Jullien, Éloge de la fadeur – À partir de la pensée et de l’esthétique de la Chine, Paris 1991 (Editions Philippe Piquier); Über die Fadheit. Eine Eloge, Berlin 1999 (Merve)