24. März 2009

Kreatives Beben

 

Nackte Amerikaner und Bordelle in der Provinz: Die Leistungsschau der deutschen Print- und Werbeszene wird auch dieses Jahr Maßstäbe setzen. Sie veranschaulicht, was kommt und was bleibt.

 

Nach einer Krise bei den Printmedien sieht es in den Deichtorhallen nicht aus. Am Wochenende Warteschlangen vor der Kasse, täglich jede Menge Besucher bei der Ausstellung der "Visual Leaders 2009", der Schau über das "kreative Leistungspotential der deutschen Zeitschriften- und Werbebranche". Hier wird "Das Beste aus deutschen Zeitschriften" gezeigt.

 

Und das Allerbeste wird am 1. April mit Gold-, Silber- und Bronzepreisen in den vier großen Kategorien Zeitschriften, Fotografie, Anzeigen und Online prämiert, die wiederum in 18 Bereiche aufgeteilt sind.

 

Bei Zeitschriften zum Beispiel gibt es Preise für das Cover des Jahres, für den Beitrag, das Feature, die Illustration, den Newcomer, den VisualLeader und das LeadMagazin des Jahres. Dafür sind in diesem Jahr "Brand Eins", "Stern", und "Zeit Magazin" nominiert. Der Preis für den Beitrag des Jahres wird an den "Stern", an "Vanity Fair" oder an den SPIEGEL gehen, für die Titelgeschichte "Der Bankraub / Die Chronik der Ereignisse, die zur Finanzkrise führten".

 

Alle Nominierungen sind ausgestellt, manche mit den Originalseiten, andere groß abgezogen.

 

Die Entscheidungen über die Preise treffen 120 Juroren, eine Jury hat beim Durchforsten von 350 Zeitschriften und 200 Websites die jetzt nominierten Beiträge herausgefiltert. Darauf ist Markus Peichl stolz, denn dies sei "der einzige Medienpreis, bei dem es keine Einreichungen gibt", sagt der Vorsitzende der "Lead Academy für Mediendesign und Medienmarketing e.V.", die den Preis organisiert und zum achten Mal vergibt.

 

Zwei Neuerungen gibt es allerdings: Die Ausstellung ist schon vor der Preisverleihung zu sehen, und die Besucher können online über einen Publikumspreis abstimmen. Bestenfalls erst dann, wenn sie die gesamte Schau angesehen haben.

 

Nominiert sind Giorgia Fiorio mit Fotos zu Ritualen verschiedener Religionen, Michael Schirner, der aus Nachrichtenfotos Bildelemente herausretuschiert hat und Ryan McGinley. Dessen sechs Farbfotos mit nackten und übermütigen jungen Amerikanern aus dem "Zeit Magazin" könnten auch in einer Galerie hängen, nicht nur weil sie entsprechend groß präsentiert werden, sondern weil McGinley eigentlich als Künstler gehandelt wird. Der überhitzte Kunstmarkt der vergangenen Jahre feierte ihn und seine aus der Werbe-und Modefotografie kommende Ästhetik als große Entdeckung.

Vor den Online-Nominierungen drängen sich die Besucher an vier Computern, jeder will sich durch die Sparten klicken: Nominiert bei den Magazinen sind Bild.de, Baunetz und Byte FM. Außerdem werden WebTV, Weblogs und eine Webcommunity prämiert.

 

Im selben Raum hängen die Vorschläge für den Preis in der Kategorie "Architektur- und Still-Life-Fotografie". Zweimal ist das "Zeit Magazin" nominiert: mit fotografierten Vogelschwärmen und mit allen 52 Fotos von Peter Langer, mit denen er wöchentlich die "Stilfragen" illustriert hat.

 

Aus "032c", dem Lead Magazin 2008, könnten die vier wunderbaren Fotos der Künstlerin Collier Schorr preisgekrönt werden. Und vielleicht bekommt die Serie "Bordelle in der Provinz" von Herbert Perl eine Auszeichnung. Überraschend, dass die Fotos hier hängen, denn sie sind aus "Kultur und Gespenster", einem im Kunstkontext erscheinenden Hamburger Magazin in kleiner Auflage - die Jury hat gründlich geguckt.

 

In der Abteilung "Mood- und Mode-Fotografie" hängen die wilden Musterbilder von Steven Meisel, ebenfalls nominiert sind die bunten Fotos von Nan Goldin und die verblüffenden, auf den Kopf gestellten Fotos von Anuschka Blommers und Niels Schumm. Dreht man sie um, haben die Modelle deformierte Gesichter.

Um das "Foto des Jahres" konkurrieren "Das Duell /McCain und Obama" ("Stern"), das bereits ausgezeichnete, erschütternde Bild "Georgienkrieg/Zwei Brüder" (SPIEGEL) und "Beinaheabsturz /Landung in Hamburg-Fuhlsbüttel" ("Stern").

 

Wer das alles gesehen hat - von vielem war gar nicht die Rede - ist erstmal erledigt. Aber nicht vergessen, vor dem Heimweg noch schnell per Computer über den Publikumspreis abzustimmen: Welches von 56 Fotos ist das Beste? Bis zum 20.3. hatten schon 6000 Besucher 206.000 Mal geklickt (bis zum 30.3. möglich unter www.abendblatt.de/daten/2009/03/12/1083108.html ).

 

Nach dem 1. April sollte man noch einmal in die Ausstellung gehen: Dann sind die Trends und die Trendmacher benannt, das "kreative Beben, das noch nie Dagewesene, Richtungsweisende", wie Peichl sagt.

 

Und es wird sich streiten und kommentieren lassen: Wie oft SPIEGEL und "Stern"? Was hat "032c", was "Dummy" nicht hat? Und warum wurde "Vanity Fair" eingestellt, wenn es so gute Geschichten hatte? Sind die Großverlage einfallslos? Hat Kreativität mit Selbstausbeutung zu tun? Und was ist schnell noch mal "Kultur und Gespenster"?

 

"Lead Awards 2009. Visual Leader 2009. Das Beste aus Deutschen Zeitschriften". Hamburg. Deichtorhallen. Bis 26.4., Tel. 040/32 10 30.

 

Ingeborg Wiensowski, DER SPIEGEL, 24. 3. 2009

 

 

www.kulturgespenster.de