20. März 2009

Momentaufnahmen

 

Kaum ist in Berlin unlängst eine Ausstellung mit den wichtigsten Arbeiten einer Ikone der Fotografie zu Ende gegangen, erhält schon die nächste Gallionsfigur der Auslöserkunst Einzug in die Hauptstadt. Nach der Retrospektive „Richard Avedon – Fotografien 1946–2004“ im repräsentativen Martin-Gropius-Bau ist nun eine Werkschau von Annie Leibovitz unter dem Titel „A Photographers Life. 1990 – 2005“ in der ranzigen CO-Galerie erstmalig in Deutschland zu sehen. Welch ein Coup der Berliner Galeristen, eine Fotografin dieses Ranges in ihren Räumen willkommen heißen zu dürfe.

In der schrammelig-sympathischen Galerie im kaiserlichen Postfuhramt hängen noch bis Ende Mai circa 200 Werke der Amerikanerin – teils großflächige, monochrome Landschaftsaufnahmen, teils Familienfotos aus der Privatsammlung und kleinformatige Schwarz-Weiß-Porträts. Was die Künstlerin vor 1990 gemacht hat – und das ist nicht wenig –, zeigen leider weder Ausstellung noch der dazugehörige Katalog „A Photographers Life. 1990 – 2005“. Dies holt jedoch der bescheiden wirkende Leinenband „Annie Leibovitz: AT WORK“ nach, der nicht nur eine umfassende Werkschau ist, sondern auch eine Werkerklärung – geschrieben von der Künstlerin höchst selbst.

Leibovitz besuchte 1968 einige Fotografiekurse und setzte sich dort erstmals mit der Fotografie auseinander. Schon zwei Jahre später, nachdem Sie in Israel in einem Kibbuz lebte, erscheint erstmals ein Bild von ihr im berühmt-berüchtigten „Rolling Stone Magazin“ – eine Aufnahme einer amerikanischen Antikriegsdemonstration. Sie arbeitet weiter für das Magazin und wird schon 1973 zur Cheffotografin ernannt. Die absolute Freiheit, so schreibt sie in „AT WORK“ habe sie bei „Rolling Stone“ gehabt und hätte nur festhalten brauchen, was vor ihren Augen passierte. „Das ist vielleicht das Wunderbarste und Geheimnisvollste am Fotografieren. Es kam mir vor, als müsste ich einfach nur entscheiden, wann und worauf ich das Objekt richtete.“ Nun, ganz so einfach war es dann doch nicht, wie aus ihren Arbeitsbeschreibungen hervorgeht. An zahlreichen Aufnahmen macht Leibovitz bescheiden deutlich, dass sie im Gegensatz zu ihren Kollegen oft gegen die Strömung schwamm, andere Perspektiven eingenommen, Situationen aus anderen Blickwinkeln betrachtet und andere Momente hervorgehoben hat. „Die Momente zwischen den eigentlichen Momenten sagen doch oft sehr viel“, schreibt sie in Erinnerung an ihre Aufnahme auf Nixons finalen Abflug aus dem Weißen Haus. Im Gegensatz zu ihren zahlreichen Kollegen lichtete sie nicht den Präsidenten in Nahaufnahme auf dem roten Teppich ab – derlei Bilder gab es schon zuhauf –, sondern die den Teppich wieder zusammenrollenden Wachposten mit dem abhebenden Hubschrauber im Hintergrund.

Annie Leibovitz, die in diesem Jahr ihren 60. Geburtstag feiert, gehört zu den Granden der Fotografie. Nicht nur, dass sie inzwischen selbst zu einer US-Ikone geworden ist. Leibovitz hatte auch die Stars und Sternchen, Intellektuellen und Denker, Helden und Lichtgestalten der USA vor ihrer Linse. Sie tourte mit Truman Capote und den Rolling Stones durch die USA, fotografierte den nackten John Lennon wenige Stunden vor seinem Tod und brachte die schwangere Demi Moore völlig entblößt auf den Titel der „Vanity Fair“. Sie malte die Blues Brothers blau an und packte Woopie Goldberg in eine Wanne voller Milch. Leibovitz inszenierte den jungen Arnold Schwarzenegger in einer riefenstahlähnlichen Ästhetik, wie sie die Queen in einer geradezu märchenhaften Atmosphäre voller Würde ablichtete. Gewissenhafte Planung und Ideenreichtum sind ganz wesentliche Eigenschaften, die Leibovitz’ Tun bestimmten und heute noch bestimmen.

Doch es ist nicht alles eine Frage der Umsicht und Vorausschau. Es gebe sie durchaus, die magischen Momente, die der Zufall einem vor die Linse treibt. Ebenso wie es Menschen gebe, die ihrem Charisma eine besondere Präsenz auf dem Foto verdanken und dem Fotografen fast seine Arbeit abnehmen. Sie habe sich lange gegen diese Einsicht gewehrt, schreibt Leibovitz, aber „es gibt Menschen, die photogen sind.“ Nicole Kidman, Johnny Depp, Cate Blanchett – sie gehören zu solchen Menschen. Aber auch Tom Waits, William Burroughs oder Mark Morris, die zwar keinem Schönheitsideal entsprechen, aber dennoch fotogen sind. Die große Kunst eines Fotografen besteht darin, solche magischen Momente nicht vorbeiziehen zu lassen.

„At Work“ ist ein spannendes Lesebuch über das Wesen der Fotografie, geschrieben von einer der weltgrößten Fotografinnen. Locker und entspannt parliert sie darin über ihr aufregendes Leben als Fotografin und die kleinen und großen Ideen, die sie von Projekt zu Projekt getragen und stets mit interessanten Menschen aus Musik, Film, Kunst und Politik zusammengebracht haben. Interessant nicht nur, dass sie von ihrer Perspektive hinter der Kamera berichtet, sondern auch ihre Anekdoten zu ihren Begegnungen mit Mick Jagger und John Lennon, ihre Shootings mit Pattie Smith oder der Queen, einer Fotosession im Weißen Haus und den zahlreichen Hollywood-Aufträgen. Kaum eine Berühmtheit wurde nicht von Annie Leibovitz abgelichtet. Und doch, die intimsten Bilder sind die Aufnahmen von ihren Eltern und der langjährigen Lebenspartnerin Susan Sontag. Anhand von fast 200 Fotografien erklärt Leibovitz nicht nur ihr kreatives Schaffen, sondern auch fotografische Grundlagen und so manchen Geistesblitz ihrer inzwischen 40-jährigen Karriere.

 

Thomas Hummitzsch

 

Aharon DeLano (Hrsg.): Annie Leibovitz: AT WORK. Aus dem Englischen von Ursula Wulfekamp & Tanja Handels. Mit 120 Duotone- und Farbabbildungen. 96 farbige Illustrationen. Schirmer/Mosel Verlag. München 2008. 240 S. 46,- €, ISBN: 3829603827.

 

Copyrightangabe bei den Bildern:

© 2008 Annie Leibovitz / courtesy Schirmer/Mosel Verlag

 

 

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