9. März 2009

Restpostenrundschau

 

Die Persönlichkeit im klassischen Zeitalter des Bildungsgedankens – zumal bei Goethe – war ja überhaupt erst einmal auseinander zu falten. Nur wenige, so steht zu befürchten, denn warum hätte man sonst eine solche Entfaltung einfordern sollen, sind in den Genuss einer entsprechenden Ausbreitung gekommen. Die meisten Persönlichkeiten waren geschlossene Veranstaltungen eben nicht mit sich, sondern mit dem Diktat des anderen, waren also gar keine Persönlichkeiten. Was aber passiert am Ende einer Persönlichkeit, wenn sie also stirbt. Wird alles wieder zusammengefaltet und irgendwo abgelegt? Gibt es einen Hort für Falten? Vielleicht: Mentalitätsgeschichte? Aber die kümmert sich auch um völlig flache Erscheinungen. Also Hagiografie? Viel zu offiziell und pompös. Unelegant. Und zu langsam.

 

Wenn man einen Autor wie André Thiele liest, der einen mit der schwierigen Auferstehungsproblematik von Resten (Scherben etc.) konfrontiert, so ist es nicht nur beinahe sondern in der Tat so, dass Thiele den Leser auf eine Spur zu führen versteht, die nicht an der Mauer eben dieser Konfrontation entlang führt, sondern sie bereits ganz wunderbar überschritten hat. Das heißt aber auch, dass der Leser zunächst die Zeilen wie in Trance abfährt. Etwas geschieht mit einem. Und das bei Essays oder, wie Thiele das nennt, Historien. Müsste nicht der eine oder andere Literat darüber vor Neid erblassen? Es ist aber ja nicht nur Rhetorik im Spiel. Sondern der Mann scheint ja gerade nicht aus Archiven zurück zu sein, sondern Gegenden, die mehr mit dem Geist als mit einer konkreten Geografie zu tun haben.

 

Der Leser fragt sich, wie man dahin gelangen kann. Aber was heißt „dahin“? Vielleicht ist das ja einfach Thiele-Land, das es nur zwischen den Buchrücken gibt und sonst nirgends. Auf jeden Fall frappiert die scheinbare Direktheit des Zugriffs auf Phänomene, Fragen, historische Persönlichkeiten, deren Selbstverständlichkeit einem völlig unklar ist. Und die einen fasziniert, ja auch begeistert. Der Leser hat den Eindruck, dass der Autor auch noch bei jedem kleinsten Detail erneut die Wertfrage gestellt hat und nach seiner blitzschnellen Befragung die Dinge auch mal ganz anders präsentiert. Analog zu den Malern, die im extrem engen Farbspektrum ihr Können zeigen, wirft sich Thiele auf Autoren, die schon lange nicht mehr danach aussehen, dass ihr verloren gegangener Steckbrief noch einmal umzuschreiben ist. Ist also Gottsched noch zu helfen? Kann man ihn umwerten?

 

Thiele ist dann doch artig genug, nicht gleich aus dem Langeweiler das Genie zu machen. Aber er schaut halt noch mal hin und ihm fallen ein paar Dinge auf. Darauf könnte man aufbauen. Keine Retusche, sondern der Versuch einer Neuaufnahme. Den trägen Fluss der Lexika kurz schock gefrieren – dann weitersehen. Oder wem haben sich nicht schon bei den Lobhudeleien auf den fürchterlichen Pietismus die Gedärme bemerkbar gemacht. Ein Grund, Monarchist zu werden? Nicht unbedingt, aber Lust hätte man schon, wenn man Folgendes liest: „Man sagt so gern, Louis XIV. habe gegen die Hugenotten ungerecht gewütet, aber man muss sich den Wahnsinn an Niedergang anschauen, die deren nordische Brüder [die Pietisten] anrichteten, kaum ließ man sie.“ Politische Korrektheit liest sich anders, aber mit Wahrheit hat diese noch viel weniger zu tun als die Feststellung des Grauens, das gegenüber den Tatsachen machtlos ist. André Thiele hat die Focus-Welt weit hinter sich gelassen. Er sitzt ihr nicht auf, er spielt mit ihr. Und wie souverän.

 

Dieter Wenk (03-09)

 

André Thiele, Eine Welt in Scherben. Essays und Historien, Mainz am Rhein 2008 (Verlag André Thiele)

 

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