2. März 2009

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Eine Liebesgeschichte, einen Psychothriller und eine Familientragödie liest man in diesem Roman – und sicherlich noch einiges mehr. Aber liest man das alles als Roman? Es ist, als säße man in einem Zug und müsste ständig das Abteil wechseln, in dem sonderbare Dinge passierten, über die man die Hauptroute vergäße. Aber es gibt sie gar nicht, denn die entscheidende Richtung in diesem Buch ist nicht die von vor und zurück, sondern von oben und unten. So etwas wie magische Tiefenhermeneutik. Es nutzt deshalb nicht viel, Brücken zwischen den drei separat erzählten Geschichten herstellen zu wollen. Die Brücken liegen nur im Einklang vor, und Akustik lässt sich schlecht lesen. Man muss als Leser schon ein wenig mitgehen, muss sich von der Rhetorik anregen lassen, um mit den Bereichen vielleicht erneut Kontakt aufzunehmen, die schon lange hinter einem lagen. Romantische Brennpunkte wie Schicksalsbestimmtheit („24. Februar“), der für einen auserwählte Mensch, für den man alles liegen lässt, dass das Leben Kunst wird und aus Kunst Leben, oder dass man irgendeinem Geheimnis auf der Spur ist. All dem liegt eine Einheitskonzeption zu Grunde, dass man tatsächlich in etwas eindringen könne, um daran zu partizipieren oder mehr noch: um es seiner eigentlichen Bestimmung zuzuführen, von der dieses andere (noch) nichts weiß. Das eigentliche Element dieses Romans ist also das Wasser, auch wenn viel vom Himmel, vom Wald und von den Bäumen die Rede ist. In der Tiefe des Wassers ist alles schwarz – der Untergang aller Farben. Sie sind dort alle versammelt und müssen erlöst werden – oder besser gesagt: Sie sind dort erlöst. Aber wie gelangt man dorthin? Stefan Beuse hat keine Antwort parat, schildert auch nicht den Weg dorthin. Was er macht ist so etwas wie eine Spektralanalyse – von daher eben die nicht nur scheinbare Abgetrenntheit der Erzählungen. Menschen allerdings gehen nicht in Lichtphänomenen auf. Hier hat jeder seine eigene Geschichte, seinen eigenen Weg. Zum Beispiel hockt jemand wochenlang (!) auf einem Baum, um jemand anderes zu beobachten, von dem er glaubt, dass dieser andere sein „missing link“ sei – und umgekehrt. Ist das eine Liebesgeschichte oder nicht vielmehr ihre eigene Parodie? Was hat man nicht schon alles den Bäumen zugemutet. Oder die Geschichte mit den Zwillingen. Das absolute Bündnis, die Abschottung, die Flucht, die Existenz einer anderen Welt. Oder die Story mit dem Ghostwriter, der die Fähigkeit entwickelt oder mitbringt, eine andere Gestalt einfach als diese weiterzuentwickeln, eben als ob sie diese selbst wäre. All diese Geschichten spielen mit Übergängen in Zonen, die nicht eigentlich verboten, aber für die Normalsterblichen schlicht unzugänglich sind. Insofern ist „Alles was du siehst“ im eminenten Sinn Literatur. Auch Traum, Fantastik. In diesem Sinn ist nicht nur das Ende unverantwortlich. Schon im ersten Geleit – nach unten – wird man einem heftigen Abstraktionsprozess unterworfen, aus dem doch alles entstehen soll, wie nach einer Explosion, die Wohlgeordnetheit zur Folge hätte. Auf diese höchste Unwahrscheinlichkeit muss man als Leser ein bisschen zu wetten gelernt haben – zumindest muss man die Wette kennen. Wer nicht wettet, kann auch nicht gewinnen. So vielleicht die Message dieses doch ziemlich abstrusen Buchs.

 

Dieter Wenk (02-09)

 

Stefan Beuse, Alles was du siehst. Roman, München 2009 (C. H. Beck)

 

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