1. Februar 2009

Ehrenkodizes

 

Rabea Eipperle kann man als Konzeptkünstlerin bezeichnen. Ihr Werkzeug, diese Konzepte durchzuführen, ist der Fotoapparat oder die Videokamera. Sie erstellt Serien, denn ein einzelnes Bild reicht nicht, für die Untersuchungen im Feld der Identitätskonstruktionen. Durch die simple Wiederholung der Versuchsanordnung mit verschiedenen Personen beginnt das Klischee, zum Beispiel von starken Männern und schwachen Frauen, zu bröckeln – obwohl man ständig auf das Klischee verwiesen wird.

 

Die Fotos und Videos sind überhaupt nicht kryptisch, jeder kann sie verstehen. Die Motive sind von monströser Alltäglichkeit, obwohl Rabea Eipperle diese Situationen genau plant und inszeniert.

 

Rabea Eipperle fotografiert Reinszenierungen medialer Klischees von Männern und Frauen, also mit Leuten, die Adressaten der Webung, also Benutzer dieser Klischees sind – also mit uns.

 

Die Protagonisten für die Soest-Serie „Wir“ rekrutierte Rabea Eipperle über direkte Ansprache auf der Straße in Soest. Das ist natürlich schon mal speziell und nicht ganz unanstrengend. Als Stipendiatin ein wenig herumschlendern in einer fremden Stadt und Ausschau halten nach Gruppen von Jugendlichen und dann den Mut aufzubringen, diese anzusprechen.

Da wusste sie natürlich schon, was sie hinterher mit denen machen will, denn sie gibt den Bildaufbau und das Thema vor. So gab es für die Serie „Wir“ einen Fundus von Vorlagen aus Zeitschriften.

Aber man kann schließlich niemanden in eine Rolle zwängen, wenn schon die Identifizierung mit der Vorlage scheitert, trotzdem hat Rabea Eipperle versucht, vorweg zu antizipieren, welche Pose dem Selbstverständnis der Leute entsprechen könnte, und daraufhin bestimmte Vorlagen ausgesucht. Auffällig an dieser Serie ist, dass die Künstlerin nur eine bestimmte Gruppe Jugendlicher zu fassen bekommen hat. Es ist eine bürgerliche Mittel- und Oberschicht. Warum sich nur diese Jugendlichen zum Fotoshooting bereit erklärten, wird nicht thematisiert.

 

Sonderbare Zustände werden hier sichtbar, denn mediale Klischees werden in der Werbung, im Fernsehn, der Mode- und Musikindustrie gewöhnlich mit einem brachialen Aufwand hergestellt. Mit Schminke und Klamotte, Hintergrund, Filtern, Vordergrund und nicht vergessen Photoshop, in dieser Serie sieht man nun die Geste, ohne alle technische Aufrüstung.

Es sind, wenn man die Abbildungen beim kunsthistorischen Fachterminus rufen will, sogenannte „Kniestücke“. Kniestücke vor neutralem Hintergrund, welcher die jeweiligen Posen umso sonderbarer hervorstechen lässt, es ist sozusagen die Pose ohne das Setting, ohne den Aufwand, so als würde man nachts allein im Bett liegen – gähnen und – sich dabei die Hand vor den Mund halten, eine Höflichkeitspose, die man normalerweise nur in Gesellschaft vornimmt.

Hier gibt es also solche Posen ohne Einbettung, gleichzeitig sind es aber eben auch und vor allem Gruppenporträts von Jugendlichen. Eine sonderbare Spezies, die ihre eigenen Höflichkeitsregeln und Ehrenkodizes entwickelt – und zwar ständig Neue, immer in Abgrenzung zu Ausgewachsenen, und hier kommt nun eine doppelte Verwirrung ins Spiel:

 

Jugendliche versteht man als Erwachsener sowieso ausgesprochen selten, man versteht genau genommen gar nichts. Wenn man gut ist, erinnert man sich vielleicht, aber das ist eben nicht zu vergleichen, da es längst neue Jugendlichen-Gesetze gibt, für jede Generation neue und sogar für jeden Ort auf der Welt verschiedene.

Sie machen seltsame Gesten und verwenden merkwürdige Ausdrücke, also eine Geheimsprache. Die Gesten, die man hier auf diesen Fotos sieht, sieht man auch manchmal in der freien Wildbahn, und jetzt ist die Frage: Sind das hier Posen, die Rabea Eipperle vorgeschlagen hat – anhand von medialen Klischees –, oder wissen die Personen auf den Fotos viel besser, was diese speziellen Gesten bedeuten, und deshalb ist es nicht nur eine hohle Geste, sondern ein bedeutungsgeladener Ausdruck, der aber eben normalerweise nicht vorkommt vor neutralem Hintergrund, es sei denn, man inszeniert ihn wie hier. Aber ist es dann noch derselbe Ausdruck?

 

Es ist diese bekannte Sache mit dem Beobachter, den man nicht beobachten sollte, da man damit sein Beobachtungsverhalten verändert und deshalb nicht genau sagen kann, ob er das auch gemacht hätte, wenn man nicht hingeschaut hätte, weil eben der Beobachtete sein Verhalten ändert, wenn er weiß, dass er beobachtet wird.

 

Denn egal vor welchem Hintergrund, Menschen versuchen immer mehr zu scheinen, als sie sind, besonders wenn sie sich beobachtet wissen.

 

Samy Molcho, ein Pantomime, hat gesagt, dass es sowieso keine natürliche Bewegung gibt, man spielt immer. Alle, auch jetzt gerade, üben sich in Posen, die allerdings so normal und geläufig sind, dass wir die Konvention für das Natürliche nehmen, dabei sind unsere Gesten genauso gespielt wie die Gesten der Abgebildeten, nur dass wir uns vorher nicht abgesprochen haben wie die Gruppen auf den Fotos mit der Fotografin, sondern alle gut erzogen sind und wissen, wie man sich zu welchem Anlass „ordentlich“ verhält oder eben nicht – aber gerade Provokation ist ja immer total künstlich und gespielt.

 

Es gibt keine natürliche Geste. Und das ist eigentlich auch schon sehr lange bekannt. Unser Wort für »Person« ist dem Lateinischen entlehnt und dort heißt »Persona« schlicht »Maske«, also verkleidet, wir sind immer verkleidet, und Rabea Eipperle macht uns freundlicher- und vergnüglicherweise darauf aufmerksam.

 

Nora Sdun

 

Rabea Eipperle: »Wir«, Ausstellung, Soest 2009

 

www.wilhelm-morgner-stipendium.de/stipendia.html