17. Januar 2009

Cinephilia

 

Ziehen Sie Filme auf der Leinwand kleineren Formaten im Fernsehen, auf Video, auf DVD oder im Internet vor? Lieben Sie Kino? Gehen Sie in ein bestimmtes Kino? Haben Sie dort einen Platz, den Sie als optimal empfinden? Gehen Sie allein in den Saal oder haben Sie Ihre feste Clique? Sprechen Sie vorher oder nachher mit jemandem darüber, ob Ihnen der Film gefallen hat oder nicht? Besuchen Sie Foren oder Blogs, um einschätzen, ob sich ein Film lohnt? Kennen Sie das Personal des Kinos, die Leute an der Kasse oder die Verantwortlichen für das Programm? Sind Ihnen klassische Filme geläufig? Sehen Sie sich gewisse Filme mehrfach an? Besuchen Sie Filmfestivals? Würde Ihnen etwas fehlen, wenn es Ihr Kino nicht mehr gäbe? Protestieren Sie, wenn Sie Ihr Kino in Gefahr wähnen? Ist für Sie das Kino ein gleichberechtigter Teil der Kultur wie Musik und Literatur?

Wenn Sie die meisten Fragen mit ja beantwortet haben, sind Sie wahrscheinlich cinephil. Kino ist dann ein Teil Ihres Lebens. Wer sich allerdings professionell mit dem Medium beschäftigt, muss schon ein Faible dafür haben, einen gewissen Teil seines Lebens in einem dunklen Raum vor einer Leinwand zu sitzen. Dass Film- und Medienwissenschaftler keine Ausnahme von dieser Regel bilden, zeigt eine Anthologie, deren Beiträge sich zwischen 2002 und 2004 aus Diskussionen und Konferenzen in New York, Amsterdam und London entwickelten und im folgenden Jahr im Verlag der Universität von Amsterdam publiziert wurden. Was harmlos nach einer von unzähligen akademischen Anthologien klingt, birgt auf den zweiten Blick brisantes Material, denn die verbindende These bedeutet einen Bruch mit den universitären Gepflogenheiten der letzten Jahrzehnte und eine Besinnung auf die Zeit, bevor die Beschäftigung mit Kinofilmen gesellschaftlich anerkannt war. Die Pionierstudien sehen in der Cinephilie einen enthusiastischen Gegenentwurf zur Postmoderne mit ihren nüchtern dekonstruktivistischen Analysen, ein Manifest für einen Paradigmenwechsel zur jouissance und zur individuellen Immersion. Die Gefahren einer nerdigen Pathologie, wie sie in dem Film „Cinemania“ über eine Clique von Film-Geeks in New York zu sehen sind, werden nicht abgestritten, aber sie werden bewusst in Kauf genommen, um einen frischen Zugang zu einem Medium zu finden, das sich im Wandel befindet (so lautet der Reihentitel).

Damit sich die vielfältigen Ansätze nicht gegenseitig behindern und verstellen, haben Marijke de Valck und Malte Hagener, beide verantwortlich für die Herausgabe des Bandes, die Beiträge in drei Abschnitte gegliedert, die vom Konkreten zum Abstrakten führen: Von historischen Rückblicken und theoretischen Ansätzen von Susan Sontag und Paul Willemen führt die Dramaturgie der Erkenntnis über die Technologie der Cinephilie, also Produktion und Konsum, zu den Techniken Bootlegging und Sampling.

Thomas Elsaesser lässt die 1960er und 1970er Jahre in Paris, London und New York aufleben – durchaus unterschiedliche Szenen, die sich in ihrer Begeisterung ähnelten und auf den Seiten ihrer Zeitschriften „Cahiers du Cinema“, „Sight & Sound“, „Screen“, „Movie“ und „Movie Magazine“ ihre Mission verkündeten, Proselyten warben und durch ihre Neubewertungen am Kanon mitwirkten. Das Goldene Zeitalter der privilegierten Generation endete um 1975 mit den mehrfach nachgedruckten Artikeln von Laura Mulvey und Stephen Heath, Dokumente zerstörter Illusionen, die zu Manifesten der sich nobilitierenden Filmwissenschaften wurden, auf der einen Seite; und der Ablösung der diskursbestimmenden Nouvelle Vague und des New Hollywood durch den Start der Blockbuster „Jaws“ von Stephen Spielberg, „The Exorcist“ von William Friedkin“ und „Star Wars“ von George Lucas, die auf der anderen Seite eine neue Generation prägten. Während die alten Cinephilen das Fernsehen verachteten und nur das Kinoerlebnis gelten ließen, kannten die jungen Filmfreaks diese Vorbehalte nicht, zumal nicht nur die Anzahl der Fernsehkanäle wuchs; mit den damals jeweils neuen Distributionsformen Video, DVD und Internet fächerten sich die Distributionsmöglichkeiten auf, bis Kino eine von vielen Möglichkeiten war, Filme zu sehen. Die Rezeption wirkte allerdings auch auf die Produktion zurück: Filme waren kein flüchtiges, kontinuierliches Erlebnis in einem öffentlichen Raum, das an eine bestimmte Spielstätte mehr gebunden war, die trotz widriger Umstände auch aufgesucht wurde, wenn dieses eine obskure Objekt der Begierde nirgendwo sonst greifbar war. Stattdessen wandelte sich der Film zum Sammelobjekt für private Archive, die wie Bücher in Regalen aufgereiht und mit technischen Geräten gezielt untersucht werden konnten. Den Jägern und Sammlern folgten Händler, die tauschten und verkauften. Und mit den digitalen Ressourcen ergab sich sogar für die Aficionados und Connaisseure aus den entferntesten Winkeln die Chance, Gleichgesinnte zu suchen, zu fachsimpeln und offene Ohren für verwegene Interpretationen entlegener Werke und Autoren zu finden. Die Cinephilie verzweigte sich, und aus diesen unterschiedlichen Gemeinden, die einander manchmal nicht grün sind, kamen die neuen Schöpfer der audiovisuellen Werke, die in dem Medium bisher übersehene Ausdrucksformen entdeckten und sich wie Kinder im Süßwarenladen an aktuellen technischen Errungenschaften ergötzten. Zugleich Hommage und Rätsel für Eingeweihte, die sich in der Filmgeschichte auskennen, und Entertainment für diejenigen, die sich bloß vergnügen; mit dieser doppelten Strategie gewannen Blockbuster und Filmfestivals als postmoderne Events ein breiteres Publikum als jemals zuvor. Die Relevanz (mal wieder) als Massenmedium erforderte in den 1990ern eine professionelle Logistik, mit der sich Kinos widerborstig innerhalb der Unterhaltungsindustrie behaupteten, wobei sich scheinbare Gegner in die Hände spielten. Hollywood, Bollywood und das Kino aus Fernost gehören ebenso dazu wie Arthouse-Kinos, Festivals jeglicher Art, Stummfilmaufführungen mit musikalischer Begleitung, Seminare an Universitäten und Kunsthochschulen, Netgroups, Foren und Blogs, legale und illegale Formen des Tausches und Besitzes von Filmen.

In dem Band werden unter anderem die Fragen aufgeworfen (und beantwortet), warum es wahrscheinlich nur Versionen gibt und die Jagd auf Originale seit jeher ein MacGuffin war; warum jemand irgendwo den Fernseher einschaltet und bei einem bestimmten Programm hängenbleibt; warum Dogme95 nur eines von Lars von Triers Spielen war (aber dasjenige, mit dem er endgültig berühmt wurde); was Todd Haynes Filme mit Orson Welles zu tun haben; und warum unser Bild vom Kino in Hongkong von remasterten Kopien bestimmt wird.

Für den cinephilen Fan wird der Band zu einer Fundgrube, obwohl die meisten akademischen Fragen offen bleiben, die in den nächsten Jahren in Folgebänden oder in Monografien sicher auf die eine oder andere Weise beantwortet werden – Wenn nicht, dann öffnet Ihnen der Band die Augen für eine Gruppe von Leuten, die Sie vielleicht als Verrückte oder Spinner betrachtet haben, und macht Sie möglicherweise neugierig, diese komische Spezies einmal live und in Farbe zu erleben.

 

Britta Madeleine Woitschig (01/09)

 

Marijke de Valck / Malte Hagener (Eds.): Cinephilia. Movies, Love and Memory (Film Culture in Transition), Amsterdam: Amsterdam University Press 2005, 236 Seiten, ISBN 90-5356-768-2 (Paperback), ISBN 90-5356-769-0 (Hardcover)

 

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