15. Januar 2009

Tortured Artist

 

Eine kleine Holzplastik aus farbig gefasstem Weichholz. Sie steht im Zeppelin Museum in Friedrichshafen. Es ist der heilige Vitus, etwa 1500 wurde er gefertigt. Man sieht ihn während der zweiten Station seines Martyriums, er steckt zur Hälfte in einem Kessel mit siedendem Öl.

Besonders bemerkenswert ist die bisher noch von keiner Spaghettitopf-Firma übernommene Stellung der im Henkeltopf steckenden Beine, sie müssen – es bleibt keine andere Deutung, denn Vitus wurde aus diesem Kessel ohne Knochenbrüche errettet – elastisch spiralförmig an den gewölbten Wänden entlangführen. Sein spöttischer Gesichtsausdruck, besonders die hochgezogenen Augenbrauen machen deutlich, dass man es hier mit artistischem Können der ersten Sortierung zu tun hat. Das heiße Öl ist eine Sache, die Stellung der Beine wirklich sonderbar.

 

Vitus ist einer der 14 Nothelfer. (Zum Verständnis der Funktion der 14 Nothelfer gilt folgende Faustregel: In der Not einen Heiligen anrufen hilft viel, in der Not viele Heilige anrufen hilft mehr.) Vitus wird traditionell von den an Chorea, dem "Veitstanz", Erkrankten angerufen; Chorea Huntington ist eine Nervenkrankheit, mit spastischen Bewegungen des gesamten Körpers, die sich nicht unterdrücken lassen. Sonderbarerweise ist Vitus auch zuständig für pünktliches Aufstehen ohne Wecker. Eine nicht erbliche, aber sehr verbreitete Nervenkrankheit der Eilfertigkeit.

 

Bildnisse von Märtyrern, mittlerweile eher ein Nischenprodukt der Kultur, haben hohes Erkenntnispotenzial für Kulturschaffende im Allgemeinen. Der tortured artist, eine aus der Mode gekommene Pose, mit der man sich nachdrücklich als leidend - von der Gesellschaft missverstanden, wenn nicht gar verfolgt - ausweist, findet in dieser Holzplastik des tortured Vitus eine abgeklärte Überhöhung und Erweiterung. Nicht mehr das Leiden selbst, das ist zu geläufig, sattsam bekannt und entsprechend langweilig, sondern die Art, sich dabei zu geben, also die Stellung der Beine des Künstlers, wird das neue Kriterium für die Bewertung der Kunst und besonders den Grad der Eilfertigkeit dieser.

 

Nora Sdun

 

Zeppelin Museum, Friedrichshafen

www.zeppelin-museum.de