4. Januar 2009

Dokumentar des Weltenwandels

 

Der deutsche Fotograf Andreas Gursky ist für seine großformatigen Raster-Aufnahmen bekannt. Wie angeordnet und aufgereiht wirken die abgelichteten Objekte auf seinen Bildern. Gursky führt uns mit der postmodernen Gesellschaft die Zeichen der Zeit vor Augen. Eine Monografie seines Werks macht dies erstmals genealogisch nachvollziehbar.

 

Der französische Fotograf Eugène Atget gilt mit seinen zeitlosen und menschenleeren Aufnahmen des alten Paris als einer der Begründer der surrealistischen Fotografie. Im Berliner Martin-Gropius-Bau war anlässlich seines 150. Geburtstages im vergangenen Herbst eine große Retrospektive des Franzosen zu sehen. In dieser fand sich versteckt ein Zitat des deutschen Philosophen und Übersetzers Walter Benjamin, worin er Atgets Fotografie mit der kriminalistischen Tatortdokumentation verglich. „Auch der Tatort ist menschenleer“, wird Benjamin da zitiert. „Seine Aufnahme erfolgt der Indizien wegen. Die photographischen Aufnahmen beginnen bei Atget Beweisstücke im historischen Prozess zu werden“, so Benjamin weiter, und der Fotograf wird derart zum historischen Detektiv.

Auch die etwa 170 von Andreas Gursky ausgewählten Bilder seiner Schaffensperiode der letzten fast 30 Jahre haben etwas von einer Indiziensammlung der zurückliegenden soziohistorischen Prozesse. Insofern ist der monografische Bildband „Andreas Gursky. Werke 80-08“ zugleich eine fotografische Allegorie des Übergangs von der scheinbar gut behüteten sozialen Marktwirtschaft der Bundesrepublik Deutschland in den 80er Jahren hin zur globalisierten liberalen Weltökonomie des 21. Jahrhunderts. Zum einen dokumentiert der Band damit Gurskys zunehmende Weltgewandtheit, die ihren Ausgangspunkt im heimatlichen Ruhrpott nimmt. Zum anderen aber ist diese historische Allegorie auch Resultat der dokumentarischen Arbeit des Deutschen, der diesen sozioökonomischen und medialen Wandel parallel zur globalen Integration aufmerksam begleitet hat.

Es ist keineswegs Zufall, dass sich diese sozialgeschichtliche Dokumentation ausgerechnet in Gurskys Werk findet. Auslöser dieses besonderen Interesses an den Folgewirkungen der sich verändernden gesellschaftlichen Verhältnisse sind seine Lehrjahre an der Kunstakademie in Düsseldorf. Dort war er Schüler des Künstlerehepaares Hilla und Bernd Becher, die ihr Leben der Aufzeichnung des industriellen Hochzeitalters widmeten und in den 70er Jahren mit ihren Schwarz-Weiß-Typologien von Industriebauten zu internationalem Ruhm gelangten. Dieses sozialhistorische Interesse der Bechers, schreibt Herausgeber Martin Henschel in seinem Vorwort zu dem vorliegenden rund 150 Fotografien umfassenden Band (in dem er, nebenbei bemerkt, das Œuvre Gurskys klug verbalisiert), habe sich bei Gursky „gezielt auf die Soziokultur menschlichen Daseins und Verhaltens“ verlagert. Wenn man diese Worte neben Gurskys Fotografien liest, muss man unweigerlich an den deutschen Philosophen und Soziologen Niklas Luhmann denken. Und damit sind wir beim eigentlichen Geist der Fotografien Gurskys angelangt.

Sein Schaffen war niemals direkt, jedoch immer in seiner dokumentarischen, Zeitzeugen schaffenden Anlage seiner Werke von den Bechers inspiriert. Es verhält sich nicht so, dass kein anderer Fotograf das Vermögen gehabt hätte, ähnliche zeitdiagnostische Bilder zu machen, das nicht. Aber kaum ein anderer Fotograf hat es verstanden, derart klug und intelligent die Strukturen der ihn umgebenden Gesellschaft aufzudecken und sichtbar zu machen. Und kein anderer Fotograf hat dies tatsächlich derart kontinuierlich getan. Gursky ist der Luhmann der Fotografie – ein strukturierter und strukturierender Denker und Philosoph. Funktionale Differenzierung lautet das Schlagwort des Luhmann’schen Kosmos bis heute. Dahinter verbirgt sich die Abstraktion der geteilten Wirklichkeit in ihre Zwecke und Bestimmungen. Und genau diese Abstraktion der Wirklichkeit vollzieht Gursky mit seinen gestochen scharfen Bildern. In der Manier eines Physikers betreibt er soziale Kernschmelze. Er zeichnet auf geniale und faszinierende Art und Weise ein überspitztes Porträt der sich ständig wiederholenden, strukturierten Topografie der postmodernen Gesellschaft.

Dabei verfährt er ganz im Sinne Otto Steinerts, einem der größten deutschen Fotografen, indem er die Wirklichkeit nicht nur einfach abbildet, sondern durch die besondere Bildkomposition einen tieferen Zugang zum Abgebildeten möglich macht. Im Rahmen seiner Professur an der Folkwangenschule in Essen beschrieb Otto Steinert diesen fortgeschrittenen Typus der „darstellenden fotografischen Gestaltung“ folgendermaßen: „Der bedeutungsvolle Schritt von der darstellenden Abbildung zur darstellenden fotografischen Gestaltung erfolgt, wenn der Gegenstand, das Motiv, nicht mehr um seiner selbst willen aufgenommen, es vielmehr von seiner Eigenbedeutung zum Objekt der Gestaltungsabsicht herabgesetzt wird. Es entsteht in produktiver Umsetzung und in Verdrängung der nur fotografischen Konkretisierung des Gegenstandes, das Bild von der Vorstellung des Menschen von diesem Gegenstand und von seinen Beziehungen zu ihm.“ Gurskys Aufnahmen erfolgen in diesem Verständnis nicht der einzelnen Objekte wegen, sondern im Namen der Indiziensammlung zugunsten einer übergelagerten Realität. In diesem Sinne stehen Gurskys fotografische Arbeiten nicht nur in der Tradition der „Becherschen Schule“ und der „Folkwangenschule“, sondern auch in einer Linie mit Eugene Atgets engagierter surrealer Fotografie.

Der darstellende Eingriff Gurskys in seine Fotografien ist vom Betrachter meist kaum wahrzunehmen. Immer wieder montiert er verschiedene Fotografien desselben Objektes aus unterschiedlichen Perspektiven, zu unterschiedlichen Zeitpunkten zusammen und schafft so neue, zeitunabhängige Wirklichkeiten. Mit diesen kaum wahrnehmbaren Montagen vollführt Gursky die Abstraktion der Wirklichkeit, die dem Leser derart in ihrer verdichteten, absolut reinen Form präsentiert wird. Gursky zeigt die Realität in der Extreme und macht zugleich deutlich, dass die Extreme der Realität hinter jeder Straßenecke zu Hause ist.

Das individuelle Subjekt findet auf Gurskys Fotografien kaum mehr statt – es geht unter! Im architektonischen Gigantismus der Postmoderne, in der Uniformität, im absoluten Übermaß oder der Anonymität der Masse wird das Subjekt zum Statisten eines allüberragenden Objekts. So z. B. in seinen Aufnahmen der Menschenmassen auf riesigen Musik- und Sport-Spektakeln, den nordkoreanischen Menschenmasseninszenierungen oder den zahlreichen Fotografien an den Börsen dieser Welt. Der Einzelne löst sich in diesen Bildern der Anbetung nahezu vollkommen auf und gerät in der namenlosen Masse unter die Räder. Während das Objekt der Begierde auf diesen Bildern differiert, ist der kapitalistische Schlachtruf der Massen stets der gleiche. Es ist die kapitalistische Parole des „Mehr, Mehr, Mehr“, der amerikanische Gedanke des „Höher! Schneller! Weiter!“, der die auf diesen Bildern abgebildeten Menschen im Moment der Aufnahme in Wallung brachte.

Den Gegenpol zu diesen Aufnahmen stellen die Fotografien der Pförtner-Serie dar (S. 47-51), mit denen Gursky seine erste Ausstellung bestritt und die zugleich die Anfänge seiner Struktur-Fotografie darstellen. Mit diesen Aufnahmen erweckt er den Anschein, die darauf Abgebildeten hätten lediglich die Funktion, in einem menschenleeren Raum zu sitzen und zu warten. Sinnloses Dasein in einer absurden Warteschleife namens Arbeit – ein sich häufendes Phänomen der aktuellen Gesellschaft. Gursky war seiner Zeit voraus! Der Bildband zeigt aber auch die konträren Analogien der Gegenwart, die differenter kaum sein könnten. So z. B. auf den Ablichtungen der Hühner in Krefeld (S. 82), denen Aufnahmen von Rindern in Greeley/USA (S. 200) und Fukuyama/Japan (S. 207) folgen. Die Bilder gleichen sich auf verblüffende Weise, obwohl das erste von Freiheit erzählt, die beiden letzten hingegen traurige Dokumente der industriellen Massentierhaltung sind. Zuweilen findet man auch Paare, in denen die Analogie im gegenseitigen Widerspruch besteht. So wirkt die Bochumer Ruhr-Universität (S. 75) vielmehr wie ein Museum, während das Foto mit dem Titel „Centre Pompidou“ (S. 141) eher einem Studierzimmer als ein Museum gleicht. Verdrehte Welten.

Das Industrielle und Maschinelle zieht sich durch die Schaffenszeit des deutschen Fotografen. Immer wieder kehrt er im Laufe der Jahre an die großen Standorte der produzierenden Industrie zurück. Und auch hier legt er die Struktur der postmodernen Gesellschaft frei, die in ihrem Konsumrausch zwar den industriellen Sektor prägt, aber zugleich viel deutlicher dessen Stempel aufgedrückt bekommt. Die scheinbare „Notwendigkeit“ der Massenfabrikation macht den Menschen zunächst abhängig von der Technik und führt schließlich zur Ablösung des Individuums durch die Maschine. In den Fabrikhallen der großen Industriekonzerne hallen schon längst keine menschlichen Stimmen mehr, sondern das fleißige Dröhnen und Schnaufen, Tickern und Tackern, Surren und Summen der Maschinen schlägt im Hochzeitalter der Technik den Takt, nachdem die Gesellschaft tanzt. Man meint, diesen Takt auf den fast sterilen Bildern moderner Produktionsanlagen förmlich hören zu können, so realistisch, wahrhaftig und offenbarend wirken seine Abbildungen dieser Unkultur.

Durch das komplette Werk ziehen sich die Motive, die seinen Ruf parallel zu den Preisen für seine Mammut-Fotografien in den vergangenen Jahren ins Unermessliche haben steigen lassen. Diese gigantischen Werke erstrecken sich schon einmal über fünf Meter und bestehen aus horizontalen oder vertikalen Strukturen. Sie geben ein abstraktes Abbild der rationalen Ordnung der Moderne wieder. Wie der Abzug des berühmten „99 Cent II Diptychon“, das auf einer Auktion im Februar 2007 den wahnsinnigen Preis von 3,3 Mio. US-$ erzielte. Seither ist es die teuerste Fotografie der Welt. Diese von der „Morphologie des Rasters“ geprägten, fast geometrisch-mathematischen Gursky-Werke tauchen in dem Bildband in allen denkbaren Varianten auf. Er verbindet auf diese Art Objekte wie Hotellobbys und Gefängniszellen, Fußballstadien und Strände, antike und moderne Architektur. Fabrikhallen ähneln plötzlich Kuhställen, und die Ladenauslagen in Luxusboutiquen unterscheiden sich in ihrer Struktur kaum von den Regalreihen eines Billigmarktes. Die entfesselt globalisierte Wirtschaft macht dies möglich, Gursky macht es sichtbar!

Gursky macht – ebenso wie Luhmann – deutlich, dass es kein Entrinnen aus der menschlichen Position gibt; Wunschdenken und Illusion sind sinnlose Tagträumereien in der Hoffnung auf Erlösung. Die Fotografien hingegen konfrontieren den Leser bei aller Faszination von Formen und Farben mit der tatsächlichen Inhumanität und Rationalität, die die postmodernen Gesellschaften prägen. Sie steigern die herrschenden Verhältnisse bis zur absoluten Unausweichlichkeit und machen so den diesen Gesellschaften zugrunde liegenden Gedanken allumfassender Effizienz und Zweckdienlichkeit deutlich. Vor dieser versucht sich der Mensch zwar mit seinen romantischen Sehnsüchten zu schützen, letztlich hat er sich ihnen jedoch unterzuordnen. Keiner zeigt dies deutlicher als Andreas Gursky. Homo homini lupus, die Selbstverschuldung des Menschen an diesen Verhältnissen ist offensichtlich. Und wie die Finanzkrise zeigt, „Apocalypse now“ ist stets nur eine Frage der Zeit!

 

Thomas Hummitzsch

 

 

Martin Hentschel (Hrsg.): Andreas Gursky. Werke 80-08. Mit einem Text von Martin Hentschel. Hatje/Cantz-Verlag. Stuttgart 2008. 272 S., 174 farbige Abbildungen. 39,80 €. ISBN: 3775723381.

 

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Ausstellungen:

12.10.2008-25.01.2009: Kunstmuseum Krefeld, Haus Lange und Haus Esters

21.02.2009-03.05.2009: Moderna Museet Stockholm (Schweden)

30.05.2009-20.09.2009: Vancouver Art Gallery (Kanada)