21. Dezember 2008

Wozu das lesen? – Fragen zu Jonathan Littell – Die Wohlgesinnten

 

 

FAZ: Die Welt, in der wir leben, ist für Sie ein einziger Schrecken.

 

Littell: Ja, sie ist ziemlich unerträglich. Sie ist ein Alptraum, beschissen, ein einziges Grauen, aber es gibt keinen Ausweg.

 

 

Hat es das schon gegeben? Die Beschreibung des Holocaust aus Sicht eines SS-Offiziers, der während der Zeit des NS-Regimes eine Karriere erfährt, die ihn wesentliche Stationen und Orte der Verfolgung der Juden in Europa miterleben lässt? Bei den so genannten Sondereinsätzen in Polen, der Ukraine und an den Rändern des Kaukasus über das Vernichtungslager Auschwitz und die unterirdische Produktionsstätte Mittelbau Dora bis zur Deportation der ungarischen Juden und den letzten Todesmärschen aus den Lagern ist Max Aue, der Protagonist in Jonathan Littells ‚Die Wohlgesinnten’ Täter und Zeuge. In Stalingrad erlebt er darüber hinaus das erbärmliche und nutzlose Sterben der deutschen Soldaten, in Berlin die grausigen Bombennächte alliierter Fliegerangriffe, er wird Zeuge der gnadenlosen Rache der sowjetischen Armee an den Deutschen und des apokalyptischen Untergangs Berlins. Dies ist eine in dieser Dichte unmögliche Biographie, aber eine, deren historische Grundlagen nachprüfbar und verifizierbar sind. Littell hat reichlich aus den Quellen geschöpft und er darf ganz sicher als Kenner der beschriebenen Vorgänge gelten.

Der Holocaust ist in all seinen Facetten bereits vielfach literarisch beschrieben worden. Faktisch Neues bringt Littell nicht, aber noch nie gab es eine Beschreibung der Zeit von 1939 – 1945 in dieser Ereignisdichte und erst recht nicht aus Sicht eines Täters. Insofern ist dieses Buch tatsächlich einzigartig und gleichzeitig ein Tabubruch ersten Ranges - und es wurde und wird auch als solcher wahrgenommen. Während die französische Kritik das Buch weitgehend feierte, der Autor in Frankreich den Prix Goncourt verliehen bekam, wurde der Roman in Deutschland überwiegend negativ aufgenommen. Pornographie und Voyeurismus werden ihm attestiert, schlecht geschrieben sei er und ermüdend. Es handele sich allein um eine „literarisch mittelmäßig bis dürftige geratene strategische Provokation“, wetterte Iris Radisch in der ZEIT.

Der Roman wird inhaltlich im Wesentlichen im Sinne der von Littell selbst angeführten Intention aufgenommen, die psychologische Verfassung dieser eigentlich unbegreiflichen Täter zu beschreiben und somit begreifbarer zu machen. Hannah Arendts Eichmann-Portrait, Goldhagens Thesen zur umfassenden Täterschaft aller Deutschen, auch der Historikerstreit bilden eine Folie, auf der dieses Buch zu lesen ist. Wie waren solche Verbrechen möglich, wer hat sie aus welchen Motiven begangen und waren sie einzigartig?

Doch der Reihe nach. Vielleicht ist es hilfreich, sich zuerst einmal der in diesem Fall tatsächlich schwierigen Frage zu stellen, warum wir dieses Buch lesen, ja lesen können, warum wir uns durch nahezu 1400 Seiten arbeiten, auf denen Szenen beschrieben werden, die einem den Atem stocken lassen. Ist es nicht so, dass man sich als Leser dem Protagonisten in irgendeiner Form verbunden fühlen sollte? Schafft man es, sich mit einem Täter zu identifizieren, der an im Prinzip Unsagbaren beteiligt war – mit einem Ungeheuer? Oder ist diese Frage zu naiv?

In dieser Eigenschaft des nahezu kaum noch Lesbaren stehen ‚Die Wohlgesinnten’ de Sades ‚Die 120 Tage von Sodom’ sehr nahe, dessen Lektüre als eine der anstrengendsten gelten darf, die man sich aufbürden kann. Mancher Leser vermochte sie nicht zu beenden, weil das Beschriebene es in seiner Abgründigkeit menschlichen Handelns nicht erlaubt. Und das ist der Fall, obwohl es sich um Fiktion handelt, mit einem realem Kern zwar, aber doch um Literatur. In den ‚Wohlgesinnten’ gibt es reichlich Szenen, die an Grausigkeit de Sade in nichts nachstehen – allerdings ist eines sicher: Sie sind keine Fiktion, sondern es hat sich so zugetragen. Und dennoch ist es möglich, weiterzulesen? Warum?

Es liegt dies daran, dass Littel durchaus geschickt vorgeht, um den Leser bei seiner Figur zu halten. Er legt Köder aus, die Empathie und somit das Weiterlesen ermöglichen: Aue leidet nicht nur körperlich unter den Brutalitäten des Geschehens und muss sich beständig übergeben, er ist auch innerlich niemals restlos überzeugt von den Vorgängen und versucht selbst, so wenig wie möglich involviert zu werden. Immer wieder entsetzt er sich über die Brutalität und viele seiner Mittäter verachtet er zutiefst. Aue ist im Prinzip ein Intellektueller, der differenziert denken kann, er kommt literarisch und philosophisch gebildet daher, pflegt seine musischen Neigungen und ist zu poetischen Beschreibungen ebenso in der Lage wie zu zärtlichen Gedanken und fürsorglichem Verhalten.

Der Autor behält auf diese Weise seiner Figur zumindest teilweise eine Distanz zu den Verbrechen vor, die es dem Leser ermöglicht, sie nicht unbedingt fallen lassen zu müssen. Auch psychologisch lassen sich mildernde Umstände finden, kommt doch der SS-Mann Aue aus familiären Verhältnissen, die wir immer wieder als mögliche Ursachen einer Affinität zu totalitärem Denken kennen gelernt haben. Und nicht zuletzt ist Aues konkrete sexuelle Ausrichtung homoerotischer Natur, was ihn unter anderem in die Arme der SS getrieben hat, um nämlich selbst einer Verfolgung zu entgehen. Er ist zudem ein Muttermörder und hegt eine inzestuöse Beziehung mit seiner Schwester Una. Jedes einzelne der dieser drei Momente reicht aus, dem Täter Aue umgehend Opferstatus einzutragen – er wäre von einem SS-Gericht zum Tode verurteilt worden.

Aber es griffe zu kurz, aus irgendeinem dieser partiell entlastenden Momente eine Entschuldigung konstruieren zu wollen. Diesen Weg verschließt Littell eindeutig, denn seine Figur ist bis zum Ende des Krieges und auch noch in seinem Versteck in Frankreich, wo er seine Biographie niederschreibt, bekennender Nationalsozialist und sein eigenes Verhalten brutalisiert sich im Verlaufe des Romans zunehmend. Und auch teils vorgetragene Kritikpunke an der erbarmungslosen Verfolgung der Juden und anderer liegen nicht in einer ethischen Infragestellung, sondern einzig in der Frage begründet, ob die Verfolgung in dieser Form dem Überleben des Nationalsozialismus nützt. Als Beauftragter Himmlers, für den er auf der letzten seiner Karrierestufen die Kontaktstelle der SS zum Rüstungsminister Speer darstellt, gelten Aues Bemühungen um Schonung der Menschen allein der Sorge um die Vergeudung des in der Endphase des Krieges so wichtigen Arbeitskraftpotenzials. Darüber kann auch nicht der Ekel vor den Taten hinwegtäuschen, die allenfalls in ihrer Form, nicht aber grundsätzlich von ihm abgelehnt werden.

Aue also ist trotz dieser oder jener Einschränkung, die den Leser vielleicht manchmal auf einen Wandel hoffen lassen, bis zuletzt und noch im Moment der Niederschrift seiner Aufzeichnungen ein Täter aus Überzeugung. In etlichen Dialogen und Gedanken wird dem Leser seine theoretische NS-Ideologie komplett unhinterfragt präsentiert, und sie kommt rhetorisch manchmal schon fast ein wenig zu geschickt daher. Selbst kritische Konfrontationen, wie die mit Helene, der einzigen Frau neben seiner Schwester, die in Aue vielleicht so etwas wie Liebe keimen lässt, übersteht seine Ideologie.

Ist dieses Buch also, wie Radisch vermutet, die Veredelung eines Edelnazi, wird er gar durch die intertextuelle Verbindung im Muttermord und der Schwesterliebe zur antiken Orestie des Aischylos ‚beinahe zur Heldenerzählung’? Unübersehbar ist dieser Mythos strukturell in den Roman eingewoben, bildet seine Basiserzählung; Aues Weg gleicht dem des Orest. Der Verlust des Vaters, der Muttermord, die Tötung des Stiefvaters, die Verfolgung durch die Erinyen, die Anfälle des Wahnsinns, schließlich das Exil, das sind die entscheidenden Parallelen zum transformierten Mythos. Schon der Titel ‚Die Wohlgesinnten’ verweist auf die Erinyen, die man nicht bei ihren eigentlichen Namen rufen sollte, weshalb sie in Athen Eumeniden – Wohlgesinnte – genannt wurden. Die Verflechtung des Romans mit dem Mythos darf daher sicher mit Recht als Schlüssel zum Verständnis vermutet werden.

Personifiziert erscheinen im Roman die Erinyen in Form zweier Polizisten, die Aue noch auf seiner Flucht vor der Sowjetarmee in den U-Bahnschächten Berlins wegen des Mordes an seiner Mutter verfolgen. Ihnen kann er sich zwar entziehen, doch das Buch endet mit dem Bild der ewigen Schuldverstricktheit des Protagonisten. Aue ist somit tatsächlich als tragische Figur konstruiert, überzeugt davon, das tun zu müssen, was er getan hat, wissend, dass die Konsequenzen ihn bis in den Tod verfolgen werden. Die Erinyen lassen sich daher lesen als gegenstandsloses und somit nicht mehr zu vernichtendes Gewissen dessen, der unhintergehbar weiß, was er getan hat.

Ist der SS-Obersturmbannführer also ein tragischer Held, der nicht anders konnte? An dieser Stelle der Interpretation stehen zu bleiben, würde die Ablehnung erklären, die der Roman in Deutschland vielfach erfahren hat, denn die Schuld der deutschen Mörder als tragische zu formulieren, muss nicht allein, aber insbesondere den Deutschen mehr als gewagt erscheinen. Sie ähnelt zu sehr der stereotypen Versicherung der angeklagten Mörder, sie hätten nur ihre Pflicht getan, nur Befehle befolgt. Dennoch ist eine andere Lesart, ohne dem Text Gewalt anzutun, kaum möglich. Die Konstruktion des Romans erfolgt parallel zum Mythos, der Protagonist gleicht in seiner Konstruktion dem tragischen Helden.

Allerdings bekommt die Analogie scheinbar eine Schieflage, sobald man die Voraussetzung für das tragische Handeln Aues betrachtet, denn dieses gründet in eben jener mörderischen Ideologie der Rasselehre, der sich der Protagonist bedingungslos verschrieben hat. Sie ersetzt das handlungstreibende Gesetz des Mythos, nach dem der Held verflucht ist, wenn er nicht den Vatermord rächt. Doch indem die Verstrickung hier so unhintergehbar gesetzt erscheint wie dort, ist nicht die Analogie unpassend in dem Sinne, dass Aue ja kein tragischer, sondern ein selbst ernannter Held sei. Vielmehr dekonstruiert der Roman durch seine Transformation des Mythos ins Absurde diesen selbst. Auch das mythische Gesetz offenbart sich am Ende als Ideologie. Die heillosen Verstrickungen sind immer schon selbst verschuldet. Die Rede von der Tragik ist nur eine Ausrede, die Gültigkeit alleine dadurch erlangt, dass man ihr folgt. Das Gesetz als das Gesetz der Rache begründet die immerfort währende Folge des blutigen Mordens und Leidens der Menschen an sich selbst.

Wenn dem Roman Hoffnungslosigkeit vorgeworfen wird, so ist dies sicherlich auch Ausdruck der Ratlosigkeit, in der der Leser nach Ende der Lektüre in der Tat verharrt. Doch die resultierende Hoffnungslosigkeit ist kein dem Roman anzukreidender Mangel, sondern auf ihren Ausdruck zielt das Unterfangen. Es gibt keinen Schimmer des Anderen, keinerlei Utopie, kein anderes Denken hat so viel Raum bekommen, dass man darauf bauen könnte. Aue sitzt am Ende im zerstörten Berliner Tiergarten, inmitten der sterbenden und toten Tiere – eine blasse Reminiszenz an den schon lange verlorenen Garten Eden? Er bleibt vom Geschehenen auf ewig verfolgt und das Unheil wird weiterexistieren.

Denn der Roman weist über sein Ende hinaus darauf hin, dass auch nach dem Untergang des Dritten Reiches das Foltern und Morden fortdauern werden. Nicht nur Aue konnte seine Haut retten, in den Figuren des ominösen Mandelbrod und des Leland gelingt zwei Hintermännern und Drahtzieher all dessen, was geschehen ist, die Flucht. Sie werden mit den stalinistischen Kommunisten, deren methodische und ideologische Verwandtschaft zum Nationalsozialismus mehrfach ausdrücklich betont wird, in Zukunft zusammenarbeiten und ihre Saat weiter in die Welt bringen.

Auf der konkreten Handlungsebene sind diese beiden Figuren in ihrer Funktion nicht vollends zu durchschauen. Sie erscheinen als Initiatoren und Motoren des Grauens, bekleiden keine offiziellen Ämter, sind aber immer involviert und informiert. Aue steht schon lange unter ihrer Obhut und sie versuchen, sein Handeln in ihrem Sinn zu leiten. Auf der Ebene der mythologischen Handlung aber sind sie als Götter zu identifizieren, deren Handeln maßgeblich die menschlichen Taten lenkt. Sie werden also als Väter und Hüter des Gesetzes maßgeblich weiter wirken und die Aussichtslosigkeit wächst damit über das Schicksal der Einzelpersonen und des zerfallenen Dritten Reiches hinaus, denn nichts ist zuende.

Kehren wir noch einmal zurück zum Leser, der bis zum Ende durchgehalten hat. Muss ihm mit Radisch unklar sein: „Warum sollen wir dieses Buch eines schlecht schreibenden, von sexuellen Perversionen gebeutelten, einer elitären Rasseideologie und einem antiken Schicksalsglauben ergebenen gebildeten Idioten um Himmels willen dennoch lesen? Auf diese Frage habe ich keine Antwort gefunden.“

Der neugierige Leser hat sich über mehr als tausend Seiten durch eine nüchterne und kalte Prosa gelesen, hat Schilderungen über Grausamkeiten vor das innere Auge geführt bekommen, die zu intensiv für schwache Nerven sind. Er hat in endlosen Gesprächen die internen Querelen der SS-Organisationen nachvollzogen, hat sich Gehenkte beschreiben lassen, sexuelle Gewaltphantasien präsentiert bekommen, Anfälle von Wahnsinn betrachtet, langweilige Zahlenkolonnen und Rechenbeispiele angeschaut. Zudem musste er sich vom Protagonisten als ‚Menschenbruder’ ansprechen lassen, der nicht glauben sollte, er sei nicht fähig zu töten. Und zuletzt also bekommt er auch noch nicht enden wollende Hoffnungslosigkeit vor Augen geführt. Am Ende sitzt er ratlos vor dem Buch und fragt sich: Wozu das lesen?

Kann das der Sinn von Literatur sein? Es kann! Littell hat in seinem opulenten und ausschweifenden Werk geschafft, was selten der Fall ist. Diese Literatur ist in der Lage, zu einer Erkenntnis zu führen, nämlich zu der, dass wir in jener Zeit möglicherweise tatsächlich selbst Gefahr gelaufen wären mitzumachen, die gleiche Schuld uns aufzuladen, von der wir uns immer gerne so fern glauben. Doch haben wir uns nicht schon im Lesen bereit erklärt, den Gedanken der Mörder zumindest viele Stunden Aufmerksamkeit zu schenken? Haben wir nicht vielleicht sogar das eine oder andere Mal im Lesefluss einen Moment lang nicht mehr vor Augen gehabt, was konkret der Abstraktion der Begriffe zu Grunde liegt, was ein Max Aue meint, wenn er von seiner ‚Arbeit’ spricht? Haben wir uns am Ende nicht sogar dabei ertappt, für einen kurzen Moment der inneren Logik eines Vorgangs einen Schritt zu weit gefolgt zu sein, so dass der Schrecken darüber uns kurz darauf heftig heimgesucht hat? Jeder Leser muss das für sich entscheiden, wie weit er sich eingelassen hat. Doch getan hat er es in irgendeiner Form.

Dieser Roman schafft eine experimentelle Welt, in der wir an uns selbst erfahren können, wie brüchig die echte ist. Und er setzt die Zeichen, die zu erkennen geben, dass man die Ereignisse jener Zeit nicht als Geschichte betrachten darf. Keine Lösung anzubieten, bedeutet die Aufgabe, darüber nachzudenken, ob das wirklich nicht möglich ist.

 

Dirk Engelhardt

 

Jonathan Littel: Die Wohlgesinnten, Berlin Verlag 2008

 

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