20. Dezember 2008

Lupenreines Lesen

 

Gibt es nicht nur ein Lesen, sondern auch ein Leben zwischen den Zeilen? Ein Leben der Gestalten selber, die der Leser gewöhnlich durch sein retinales Abtasten der Lettern für sich bildend hervorruft und vor seinem inneren Auge agieren lässt und beim Beenden des Lesevorgangs auch wieder begräbt? Gibt es also ein autonomes Leben des Gedicht- und Romanpersonals? Was macht Ulrich, wenn ihn niemand zur Kenntnis nimmt? Arbeitet er klammheimlich an der Produktion von Eigenschaften, die ihm angeblich fehlen? Könnten fiktive Gestalten auf so etwas wie einen „Leseranwesenheitsmesser“ reagieren oder wenden sie sich sogar irgendwann einmal gegen ihr literaturbezirksgeschichtliches Dasein?

 

Der deutsch-georgische Autor Giwi Margwelaschwili macht die Probe aufs Exempel und dringt in Zonen vor, die noch nie jemand zuvor sah oder bemerkte. Die Erzählungen „Vom Tod eines alten Lesers“ wollen dabei keine Übungen in Sachen Transzendenz sein – ob damit die Wirklichkeit gemeint sei, auf die der Text Bezug nimmt, oder eine Überwirklichkeit, auf die er nur hinweisen kann. Nein, Margwelaschwili entführt den Leser in die buchstäblichen Abgründe der „Ciszendenz“ von Texten und mutet jenem seltsame Paradoxien zu, die einen an Escher’sche Architekturgebilde denken lassen. Wir wissen, dass es absurd ist, aber wo genau liegt der Fehler? Wenn wir als Leser das Roman- oder Gedichtpersonal kennen lernen können, warum kann es sich nicht untereinander begegnen, und zwar auf einem gedicht- oder romanweltbezirksgeschichtlichen Niveau, das Margwelaschwili „thematisch“, manchmal auch „unthematisch“ nennt. Einem Niveau, das man sui generis nennen könnte und eine Parallelwelt bilden würde. Und in die sich weitere Figuren hineinintegrieren lassen könnten, zum Beispiel Copyright-Cops oder eine ganze „Gedichtweltverwaltung“, die sich ausschließlich zu den Interna von Literatur äußerte und extern gar nicht fassbar wäre.

 

Wer diese Erzählungen liest, betritt seltsames Gelände. Der Autor führt Unterscheidungen in die Textwelt ein, dass einem manchmal schwindlig wird. Die klassische Aufteilung zwischen Autor, Leser und fiktiven Figuren ist völlig dahin. Bisweilen hat man das beschämende Gefühl, sich noch nie wirklich mit Literatur auseinander gesetzt zu haben, wenn man in die Mikrowelt dieser Erzählungen eintritt. Die Befürchtung, bislang mit zu groben Brillen gelesen zu haben. Dass man das Entscheidende verpasst hat. Vielleicht wird man aber auch nur sagen wollen, dass der Autor Giwi Margwelaschwili Literatur in zweiter Potenz schreibt. Oder besser: Literatur, aus der man die Wurzel gezogen hat und man feststellt, etwas geht da nicht auf, weil eben keine Wurzel mehr da ist. Man könnte fast von einer textuellen Literatur sprechen, wenn dieser Ausdruck nicht schon besetzt wäre durch eine bestimmte Spielart aus den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts. Es ist schon ziemlich versponnen, was der Autor dem Leser vorsetzt. Man denkt an Romantik (Autoren lernen ihre Figuren persönlich kennen) oder an Märchen (die Nicht-Wahrscheinlichkeit des Rahmens), manchmal auch an bestimmte andere Autoren (Beckett) oder Richtungen und Techniken (nouveau roman und die mise-en-abîme).

 

In einem ganz eigenen Sinn sind diese Erzählungen abenteuerlich, denn obwohl man die Lettern nie verlässt, gerät man von Anfang an auf unwegsames Gelände. Denn es gibt keine Wege zwischen den Buchstaben und den Wörtern. Man könnte sich Margwelaschwili ganz gut vorstellen wie Paul Klee auf seiner Zeichnung „Versunkenheit“, auf der der Künstler mit geschlossenen Augen und ohne Ohren zu sehen ist, oder wie Caspar David Friedrich, wenn er den Malern seiner Zeit empfiehlt, die „leiblichen Augen“ zu schließen und eher immanent zu verfahren. Es ist diese radikale Immanenz (oder eben „Ciszendenz“) Margwelaschwilis, die irritiert, manchmal frustriert, aber vor allem fasziniert. Die Lektüre als „Ritt über den Bodensee“ – man kennt das Fundament nicht, auf dem man agiert.

 

Dieter Wenk (12-08)

 

Giwi Margwelaschwili, Vom Tod eines alten Lesers. Erzählungen, Berlin 2008 (Verbrecher)

 

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