17. Dezember 2008

Verknappungen

 

Die wissenschaftliche Form des Sensationellen ist der Diskurs in Michel Foucaults Verständnis als Ereignis. Wie lässt sich das Ereignis oder die Sensation in eine dauerhafte Form bringen? Indem man sie verzeitlicht und pluralisiert. So kann man immer wieder die Frage nach dem Neuen stellen und sich überraschen lassen. Diskurse sind Kontaktmedien, die gerade aus zeitlicher Entfernung keine Macht mehr entfalten. Ihnen kann also gewissermaßen der Strom abgestellt werden. Wenn also jetzt ein Handbuch zu Foucault erscheint, dann mag dieses Buch selbst ein Ereignis darstellen oder ein Beleg dafür sein, dass der vorgestellte Autor eben dort angekommen ist, was er selbst wortreich beschrieb: im Archiv. Ist man also schon wieder über Foucault hinaus – vorausgesetzt, man gesteht ihm eine einflussreiche Position überhaupt zu –, oder ist das hier und dort festzustellende emsige Arbeiten mit Foucault ein Zeichen dafür, dass man genau mit den Mächten zu tun hätte, die er analysiert hat?

 

Für Foucault-Kenner, die auch mit den Nachlasspublikationen vertraut sind, dürfte das Handbuch nichts wesentlich Neues bieten, aber es ist dann doch insofern ein Ereignis, als kein Einzelner all die Anschlüsse nachzuzeichnen wüsste, die hier zumindest ansatzweise vorgestellt und teils auch kritisch kommentiert werden. Verschiedene Disziplinen wie Philosophie, Medienwissenschaften, Politikwissenschaft oder Soziologie werden danach befragt, inwiefern sich in ihrer Verfasstheit der Foucault-Faktor bemerkbar gemacht hat oder ob sogar Foucault als Begründer bestimmter Disziplinen gelten kann. Je nach Disziplin fallen diese Einflüsse, Unterwanderungen oder auch Immunitäten ganz unterschiedlich aus, und das hat natürlich mit den verschiedenen Anschlussmöglichkeiten zu tun, die sich aus der Brauchbarkeit von Foucaults „Werkzeugkasten“ ergeben.

 

Ein weiterer Zugang zu dem französischen Archäologen und Genealogen ergibt sich aus dem 29 Begriffe und Konzepte umfassenden Wörterbuch, das summarisch zum Beispiel über häufig bereits zu bloßen Schlagworten verkommene Termini wie Diskurs, Dispositiv, Heterotopie etc. informiert. Am Anfang des Handbuchs steht jedoch – nach einigen Bemerkungen zur Person „Foucault“ – die Chronik der laufenden Ereignisse in Form der Publikationen von „Schriften zur Psychologie und Geisteskrankheit“ und „Wahnsinn und Gesellschaft“ über „Die Ordnung der Dinge“ und „Der Wille zum Wissen“ bis hin zu den Nachlasseditionen der „Dits et Écrits“ und der „Vorlesungen“. Der Autor Foucault, das lässt sich diesem chronologischen Aufriss entnehmen, hat sich gehörig entwickelt. Aber anders als bei seinen vor allem französischen Zeitgenossen seiner schreibenden Zunft steht bei ihm am Ende ein fast paranoides Projekt eines Verortungswillens alles dessen, was es gibt; insofern ist „Die Ordnung der Dinge“ ein Titel, der generisch über seinem Gesamtwerk stehen könnte.

 

Aber diese Ordnung steht alles andere als fest, das Netz, das Foucault auslegt, bewegt sich, wird von jedem mit bewegt, und genau an diesem Punkt ist wohl eine Hauptschwierigkeit der Analysemöglichkeit erreicht, denn wie lassen sich bewegende und bewegte Kräfte beschreiben, wie dicht sind Sätze und Personen miteinander verkoppelt, wie tief ist jeder in etwas, das „wirkt“, verankert, das selbst kein Bewusstsein davon hat, weil es einfach läuft und funktioniert. Welche Position nimmt der Autor Foucault zu seinen Beschreibungen ein, in denen er selbst „steckt“. Und: Gegen was rannte Foucault an (zum Beispiel „die“ Anthropologie und „der“ Mensch), was heute vielleicht selbstverständlich scheint, nämlich dass es verschiedene Weisen gibt, Mensch zu sein. Foucault war und ist ein Autor, der nicht einfach zu lesen ist. An das Pathos vor allem seiner früheren Texte werden manche sich erst gar nicht gewöhnen wollen. Und er ist auch deshalb nicht leicht zu lesen, weil er sich selbst bewegt und die Konzepte mit sich. Als ob die „Brüche“, für deren Beschreibung er berühmt wurde, auch für sein eigenes Werk gelten würden, und sie tun das wohl auch.

 

Wie geht man mit Foucaults Texten um? Wenn ihr Wissen selbst zu historisieren und nur unter den und den Vorsaussetzungen zu denken ist? Ist es vielleicht genau die Einübung in den Fluss der Dinge mit immer wieder überraschenden Biegungen und Hebungen und Senkungen, die zählt? Also wieder und immer noch Nietzsche? Woher aber dann dieser kritische Impetus, wenn das Relationale jeden kritischen Standpunkt aufzulösen vermag. Sind wir doch wieder im „unendlichen Gespräch“ der Romantiker gelandet? Indem das Handbuch Fragen wie diese evoziert, begräbt es Foucault nicht, sondern stellt ihn selbst in eine Reihe von Fragenden, die vor allem für ihre Fragen bekannt und wichtig wurden. Foucault verschwindet, wenn man die Dinge zu schnell festklopft oder man sich vom Foucault-Sound wegtragen lässt wie Michael Maset, wenn er zum Lemma „Diskontinuität/Zerstreuung“ schreibt: „Der Wahnsinn z.B. ist das Streuungsgesetz unterschiedlicher Gegenstände, die durch eine Gesamtheit von Aussagen an den Tag gebracht werden, deren Einheit genau durch dieses Gesetz definiert wird.“ Manchmal wünschte man sich doch etwas mehr Distanz zu Foucaults rhetorischen Idiosynkrasien, aber das Schreibsubjekt Foucault scheint oft einfach zu mächtig. Auch das lässt sich prima selbst mit Foucault erklären.

 

Wer sowieso schon auf Distanz zu Foucault ist, wird durch dieses Handbuch vermutlich nicht behutsam zu ihm herangeführt werden. Für die Gemeinde ist das Buch ein „Muss“, hier laufen nicht alle, aber viele Anschlüsse zusammen. Die Zeittafel auf Seite 443 ist allerdings revisionsbedürftig (ein zweiter Geburtstag z.B. wird ins Spiel gebracht), und woanders: Klaus Croissant war kein RAF-Mitglied.

 

Dieter Wenk (11-08)

 

Clemens Kammler/Rolf Parr/Ulrich Johannes Schneider, Foucault Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2008 (Metzler)

 

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