28. Oktober 2003

Der Ehre zuviel

 

In einer Welt, in der die Grenzen zwischen gut und böse, legal und illegal in dem Maße sich verwischen, je mehr man hinter die Kulissen schaut, ist es schwer, ein Ehrenmann zu sein. Die Ehre kennt keine Kompromisse, sie hat das letzte Wort. Deshalb ist sie eigentlich immer, in dieser Welt des Kriminellen, die der Film zeigt, ein tödliches Instrument, der heilende Speer, der den Weg zur Wunde nicht mehr findet. Die Ehre gehört also zur Welt des magischen Denkens, die auf das Charisma einer Konvention gebaut ist. Nicht alle leben aber in dieser Welt und nicht alle erkennen diese Konvention an. Das macht aus dem ehrenwerten Mann eine hybride Figur aus Held und Don Quichotte. Erst Gesinnungsheld, dann Don Quichotte der Aktion, am Ende toter Mann.

Vielleicht liegt es an dieser ausnahmslosen Folgerichtigkeit, dass Brian de Palma uns gleich mit dem Ende der Geschichte bekannt macht. Fragt sich nur, was uns dann noch interessieren könnte. Die tragische Selbsterkenntnis des Helden? Eine spannend erzählte Geschichte, die es sich leisten kann, das Ergebnis schon ausgeplaudert zu haben? Eine Raffinesse bei der Darbietung? Letztlich wird man nur gesehen haben, wie ein Genre sich selbst vorführt, und das ist ein bisschen wenig. Man schläft mit dem müden Erzähler ein. Der Drogendealer Carlito (Al Pacino) wird auf Bewährung vorzeitig entlassen, das hat er vor allem seinem Anwaltsfreund zu verdanken. So sieht es jedenfalls erst mal aus. Aber dann stellt sich der Freund selbst als ganz großer krimineller Hecht heraus, der plötzlich mitten zwischen den Stühlen sitzt und Carlito bittet, ihm bei einer Aktion zu helfen. Die Aktion scheitert, der Freund versucht sich mit allen Mitteln zu retten und scheut sich auch nicht davor, Carlito anzuschwärzen. Das ist der Moment, wo die Magie als Magie erkannt wird. Und das ist der Zeitpunkt, wo es schon zu spät ist. Wo man als dummer Junge dasteht. Denn die guten, uneigennützigen Taten werden von den anderen nicht gegengerechnet. Und man hat den Überblick darüber verloren, wer sich noch abrechnungsberechtigt glauben darf. Das ist besonders dann fatal, wenn man einer Frau das Paradies versprochen hat und unter Zeitdruck steht, dieses zu verwirklichen.

Am Ende steht einem dann immer einer gegenüber, mit dem man am wenigsten gerechnet hat und der einen von einem Traum zum nächsten befördert, wenn es nicht gleich der Tod ist. Als Zuschauer teilt man die hilflose Situation der Frau, der Geliebten, bei der das Nachsehen tapfer erwartet wurde. Und der Traum vom Paradies zieht sich am Ende definitiv in ein Plakat zurück, dessen Animation nichts anderes als Kitsch übrig lässt. Und die Moral von der Geschichte? Ein langer, langweiliger Film, Pflichtübung (oder auch nicht) eines Regisseurs, von dem man schon bessere Filme gesehen hat, lustigere, spannendere, abgefahrenere. Das „Lächeln des Brian de Palma“ habe ich hier schon ein bisschen vermisst.

 

Dieter Wenk

 

Brian de Palma, Carlito’s Way, USA 1993