12. Dezember 2008

Die Macht der Abbilder

 

Thomas von Steinaecker beschreibt in „Geister“ das Leben im Status gesteigerter Virtualität

 

Geister sind wir alle, jedenfalls in der von Thomas von Steinaecker angedeuteten Definition: als virtuelle, imaginierte, fiktionale Wiedergänger unserer selbst. Ob wir in einem Urlaubsvideo auftreten, uns auf einer MySpace-Seite profilieren oder auch nur als Stimme auf dem Anrufbeantworter zu hören sind, das sind immer wir, aber eben nur eine blasse, durchscheinende und deshalb bisweilen geradezu befremdlich andere Version von uns.

Jürgen Kämmerer ist geradezu besessen von so einem Geist. Seine ältere Schwester Ulrike wird noch vor seiner Geburt Opfer eines Gewaltverbrechens und verschwindet spurlos. Er kennt nur Bilder von ihr, die sich aber als wirkungsmächtig erweisen, weil die Abwesende den Eltern weiterhin ständig durch den Kopf spukt. Sie nehmen Jürgen nur mittelbar wahr, durch ihre Aura hindurch, und so bleibt sein Ego fremdbestimmt von diesem Schemen. Er imitiert sie unbewusst, identifiziert sich mit ihr. Ein Dokumentarfilm wird gedreht, der wieder neue Ulrike-Bilder produziert, die sich mit seinem Leben verzahnen, und schließlich setzt sich eine Comic-Zeichnerin mit Jürgen in Verbindung, die sich für sein Schicksal interessiert und ihn als Figur in ihren autobiografischen Comics auftreten lässt. Die werden hier, ein hübscher Einfall, teilweise auch tatsächlich als Comics wiedergegeben. Jetzt entwickelt die Macht der Abbilder jedoch eine neue Qualität, Jürgen lebt den Bildern hinterher, er spielt nach, was die Strips ihm vorgeben, und spätestens jetzt wäre eigentlich eine Therapie dringend angeraten.

„Geister“, Steinaeckers zweiter Roman, spielt durch, wie virtuelle Abbilder zurückscheinen auf die Lebenden, wie die Realität zweiter Ordnung sich in die erste Wirklichkeit einmischt und diese wiederum neue Imaginationen von sich schafft, die dann ebenfalls wieder retournieren. Realität ist ein Spiegelkabinett, ein mehrfach gebrochener Hybrid aus Erfahrungen und Vorstellungen, und „Geister“ wäre dann entsprechend, so könnte man vielleicht Steinaeckers poetologisches Programm zusammenfassen, eine adäquate, zeitgemäße Form des realistischen Romans. Adäquat insofern, als er die Conditio humana im Status gesteigerter Virtualität darzustellen versucht. Und das hat er mit erzählerischer Potenz und viel ästhetischem Kalkül umgesetzt, nur manchmal sieht man diesem Buch den Bauplan etwas zu deutlich an.

 

Frank Schäfer

 

Thomas von Steinaecker: Geister. Mit Comics von Daniela Kohl. Frankfurter Verlagsanstalt. Frankfurt a.M. 2008. 204 S. 19,80 Euro

 

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