8. Dezember 2008

Tornadoästhetik

 

Für Peter W. Jansen, der uns vorgemacht hat, wie es geht.

 

 

Über Erdarbeiten

 

Zunächst etwas Metakritik: Filmkritik transformiert Eindrücke in Ausdrücke, übersetzt Bilder in Worte; zumindest versucht die Kritik dies. Filmkritik versucht also eine naturgegebene Sprachkluft zu überwinden. Wie also geeignet vorgehen? Springen? Einen Drachen bauen und die Tiefe überfliegen? Eine Brücke bauen? Das Loch auffüllen? Da ist eine Menge aufzufüllen, viel Sprachschutt beizuschleppen. Obendrauf kommt dann die Wortmuttererde. Im besten Fall wächst auf der neu erbrachten Fläche sogar etwas.

 

 

Begegnung in Zellophan

 

Jetzt etwas Eigenwerbung: Mal angenommen, jemand, und das sollte man als Aufruf an die Mäzene dieses Landes verstehen, würde mir einen nicht geringen Betrag zur Verfügung stellen, um einen Film, sagen wir mal mit dem Titel „Begegnung in Zellophan“, zu drehen, dann würde ich mir als Kameramann natürlich Christopher Doyle wünschen. Niemand filmt poetischere Bilder, niemand setzt die Zeitlupe so zeichnend ein. Seine Kameraarbeit orientiert sich an der alten Tradition des Kinos als grafische Kunst. Lustlos abgefilmte Theaterszenen gibt es bei ihm nicht. Wong Kar-Wai kann davon ein Lied singen.

Gus van Sant und Christopher Doyle haben sich gesucht und gefunden. Sie harmonieren wie siamesische Zwillinge. Sie pflegen einen fast schon meditativen Inszenierungsstil.

 

 

Der Paranoid Park

 

Der Paranoid Park ist eine illegale Skater-Anlage in Portland, Oregon. Hier skaten nur die ganz harten Jungs, die Freaks, die Kaputten, die Ausgestoßenen. Alex, Scheidungskind, der mit seiner Mutter und seinem kleinen Bruder lebt, entschließt sich eines Abends zu einer folgenreichen Tour in den Paranoid Park. Rasch lernt er Leute kennen, wird von einem zum Güterzugsurfen überredet. Gesagt. Getan. Sie hängen am Zug, einer der Nachtwächter hängt sich an sie ran, und schon hat er das Skateboard von Alex im Gesicht, stürzt, fliegt nach hinten auf die Schienen und wird von einem herankommenden Zug halbiert.

Alex entsorgt seine blutigen Klamotten, sein Skateboard und beschließt, die Tat zu verheimlichen.

 

 

Editorengewalt

 

Nicht „was“ erzählt wird, sondern „wie“ es erzählt wird, ist wichtig. Das zeichnet alle großen Filmkunstwerke aus. Das ist keine neue Aussage, aber auch hier passt sie. Und deshalb ist sie zu treffen.

Entgegen der Romanvorlage erzählt uns Gus van Sant den Film in nicht-linearer Form. Diese Gegenbewegung, dieses Ankämpfen gegen die Zeitspule ist sicherlich als Trend bei inzwischen vielen Filmen auszumachen. Die Zeit wird aufgebrochen, zerlegt, zerfasert, neu sortiert. Der Film bietet sich natürlich für solche Experimente besonders an. Die Montage schreit nach dem Wagnis des Zerbrechens, ist der Schnitt doch ein Bruch in Reinkultur, der in der Konfrontation zweier Bilder das Dritte im Kopf des Zuschauers beschwört. Die Montage ist eine Provokation für das sehende Auge.

 

 

Tornadoästhetik

 

„Paranoid Park“ ist als Filmgefäß mit einer stoischen Ruhe gefüllt. Stilisierte Bilder folgen skulpturalen Einstellungen. Die Farbdramaturgie erinnert an die großen asiatischen Filme. Der Soundtrack ist hier nicht Untermalung oder Stimmungsmacher; viel eher agiert der Sound als Ergänzungsdroge unserer Wahrnehmung. Die Bilder unterliegen der Musik, die wiederum den Bildern erst ihre ganz eigene Mimik verpasst.

Die Geschichte erscheint als Schlaf auf dem Schafott. Die Tat lastet als zittrige Hand auf dem Geschehen. Nichts scheint, wie es ist, und doch ist alles nur das, was wir gezeigt bekommen.

Der Paranoid Park, eingefangen von einer entschleunigten zeitlupenhaften Super-8-Ästhetik, die der Bewegung ihre rohe Gestimmtheit nimmt, um sie mit geometrischer Genauigkeit neu zu erschaffen, wird uns als eine Art jugendliches Paradies vorgeführt, als ein Ort der Heilsversprechungen und Erlösungsmythen; eben jener Ort, der später für Alex zur Hölle wird. Das haben Paradiese leider so an sich: diese Höllenfahrtsmentalität.

Im Paranoid Park kommen sie alle zusammen; Scheidungskinder, die unsere Städte ausspucken wie Kerne. In diesem Becken sammeln sie sich. Und so wie es die paradiesische Gesetzgebung nun einmal verlangt, macht sich auch Alex schuldig. Das Kainsmal des Todes muss er ab der zweiten Hälfte des Films tragen.

War die erste Hälfte noch von der Paranoia des Zuschauers bestimmt, der ahnte, was kommen wird, es aber noch nicht wusste, wird im zweiten Teil, die Ruhe, die Alex zur Schau trägt, zum Balken im Auge des Zuschauers. Der durchtrennte Wachmann teilt den Film im wahrsten Sinne des Wortes in ein Davor und ein Danach. Dualität ist Gus van Sant insgesamt wichtig. Da sind Mutter und Vater, die auseinander gerissen sind. Sie spielen keine Rolle im Weltgebäude ihrer Kinder. Sie kommen nur im Vorbeimarsch vor. Alex hat einen kleinen Bruder. Auch hier die Zahlenmystik. Alex hat eine Freundin. Obwohl die beiden überhaupt nicht zusammenpassen, begleitet Alex sie zu einer Party, entjungfert sie dort. Sie rennt nach dem „Getanen“ zum Telefon, informiert aufgeregt ihre Freundin. Die Neuigkeitskultur fordert ihren Tribut. Die Beischlafszene der beiden Jungendlichen ist eine der vielen Highlights des Films. Keine Einstellung, kein Bild kommt dem Voyeur entgegen. Die Kamera spielt mit dem Sonnenlicht, das sich im Haar der Geliebten verfängt. Großes Kino liebt die beiläufigen Gesten.

Später dann macht Alex mit seiner Freundin Schluss. Wieder eine Trennung. Wir hören nicht, was sie sprechen, wir sehen nur ihre sprechenden Gesichter, die begleitet werden von einer herrlich slapstickartigen Musik. Hier hat einer sein Metier studiert, hat bei den „Alten“ genau hingesehen. Alleine eine solche Szene verarbeitet auf meisterliche Art unzählige Augenblicke aus den Kinokatakomben.

Gegen Ende des Films liegt Alex in der Einfahrt zum Haus. Er inszeniert sich dort wie der auf den Schienen sterbende Wachmann. Diese „Sterbeszene“ ist Kontrapunkt und Fuge, Wahlwiederholung einer Idee vom Tod. Auch hier wird nichts ausgesprochen, aber alles gesagt.

 

 

Nekrolog

 

 

„Paranoid Park“ zeigt, dass der Film die wichtigste aller Künste sein könnte.

Leider bekommen wir immer noch allwöchentlich das Gegenteil bewiesen. Da kann man sich nur einem Emir Kusturica anschließen, der beim eigenen Filmfestival in dem aus einem Filmset entstandenen Dorf symbolhaft einen Film wie „Die Hard 4.0“ zu Grabe trug. Ein anderer Platz fällt einem da auch nicht ein.

Fehlten eigentlich nur noch Gus van Sant und Christopher Doyle, die das Ganze mit der Kamera eingefangen hätten. Die beiden Großwildjäger hätten das Ereignis mit einem gekonnten Schuss erlegt, und wir hätten uns die Trophäe dann nachher genüsslich im Kino unseres Vertrauens ansehen können. So bleibt uns aber wenigstens „Paranoid Park“ und die Hoffnung auf die nächste Safari des Gus van Sant.

 

Guido Rohm

 

 

Titel: Paranoid Park

Künstler: Gus Van Sant

Format: Dolby, PAL

Sprache: Deutsch (Dolby Digital 5.1), Englisch (Dolby Digital 3.0)

Untertitel: Deutsch

Region: Region 2

Bildseitenformat: 4:3

FSK: Freigegeben ab 16 Jahren

Studio: Alive - Vertrieb und Marketing/DVD

DVD-Erscheinungstermin: 7. November 2008

Produktionsjahr: 2007

Spieldauer: 81 Minuten

DVD Features:

• Making Of

• Interview mit Gus van Sant

• Trailer zu "Paranoid Park", "Mala Noche" und "Last Days"

 

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