3. Dezember 2008

Die Hölle sind immer die Anderen

 

Über Georges Batailles „Henker und Opfer“ (und noch einiges mehr)

 

„Was die Künstler machen müssen – und die Kritiker verteidigen und alle Demokraten in einem entschlossenen Kampf von unten unterstützen müssen -, sind Werke, die so extremistisch sind, dass sie selbst noch für die aufgeschlossensten Ansichten der neuen Macht(-haber) inakzeptabel sind.“

Pier Paolo Pasolini

 

 

Die Hölle ist jener Ort, dessen wir uns nicht versichern wollen. Wir weisen ihn mit einer ausholenden Geste von uns, als wäre er nicht Teil der Welt, als wäre er zumindest nicht jenes Teiles angehörig, auf den wir Anspruch erheben.

Eine unserer liebsten Thesen auf unserem Absicherungskurs ist die Motivation des Anderen, der immer der Ferne ist. Nicht wir foltern, sondern der andere foltert, weil er böse ist, weil ihn seine Mutter geschlagen hat, weil ihn sein Vater vergewaltigt hat.

Rasch haben wir uns mit einer These aus dem Staub gemacht, allzumal mit einer These, die uns außer Acht lässt. Wir kommen darin nicht vor. Wie sollten wir auch. Wir sind weder Opfer noch Täter, sind die stillen Beobachter, die sich in die Daunenkissen der vermeintlichen Gewissheit kuscheln.

Entsicherungsdenker, so könnte man Menschen vom Schlage eines Pasolini oder Haneke nennen. Georges Bataille ist auch einer jener Entsicherungsdenker.

Michael Haneke verweigert sich in seinen Filmen konsequent Erklärungsmustern, die, wie er selbst immer wieder in Interviews kundtut, einzig zur Beruhigung des Zuschauers beitragen.

Motive entbinden uns der Pflicht zur Angst.

In „Reflexionen über Henker und Opfer“ schreibt Bataille: „Es gibt in einer bestehenden Form moralischer Verurteilung eine kaum greifbare Form der Leugnung. Man sagt letztlich: Zu dieser Gemeinheit wäre es nicht gekommen, wenn es nicht Ungeheuer von Menschen gegeben hätte. Bei diesem Gewalturteil macht man einen Schnitt zwischen den Ungeheuern und dem Möglichen. Man klagt sie implizit an, die Grenze des Möglichen zu überschreiten, statt zu sehen, dass gerade ihre Überschreitung diese Grenze bestimmt.“

In der Erzählung „Die Schule der Gottlosigkeit“ von Aleksandar Tisma geht es an der Hand eines Foltermeisters frisch ans Werk. Unzumutbar scheint das Geschehen. Dann driftet die Handlung ab, der Täter verschwindet, telefoniert mit seinem Kind, das krank im Bett liegt. Die Sorgen ob des Kindes fressen ihn schier auf. Der Täter entgleitet uns hier rasch.

Ob in dieser Erzählung oder in seinen Romanen, auch Tisma zählt zu den großen Entsicherungskünstlern, zu den Unzumutbaren, die Pasolini eingefordert hat. Zu Recht. Noch fehlen sie in der Mehrzahl. Aber darüber soll es hier nicht gehen, muss es aber noch einmal an anderer Stelle gehen. Zu drängend ist der Ruf, der bisher so unerhört blieb. Man spuckt sie meist immer noch an. Da käme man schnell auf den Fall Gaspar Noé.

George Bataille wurde 1897 geboren, er starb 1962 in Paris. Damit wären die Eckdaten eines großen Unbequemen aufgezählt. Innerhalb dieses Zeitrahmens geschah viel. Ein Leben ist stets mit einem Zuviel angefüllt, nie mit einem Zuwenig. In der Handlung, im Handeln ohne Halt liegt eine der großen Schlüsselsituationen der Menschheit, die alles Maß und alle Zurückhaltung aufgegeben hat und somit auch alle Möglichkeiten in die Welt entlassen hat.

Zitieren wir noch einmal Bataille: „Wie die Pyramiden oder die Akropolis ist Auschwitz Tat, ist Auschwitz Zeichen des Menschen. Das Bild vom Menschen ist seither untrennbar mit einer Gaskammer verbunden …“

Wir alle, und da revoltiert einer der Gestrigen selbst noch ins Heute hinein, sind Auschwitz. Wir tragen alle Möglichkeiten in uns, sind Henker und Opfer zugleich. Da sollte man nicht zu rasch vorübereilen, denn auch heute noch schauen wir immer in die eine oder andere Richtung. Hören wir von Foltergefängnissen der USA, dann erheben wir sofort wohlfeil den moralischen Zeigefinger, natürlich nicht ohne ihn vorher noch befeuchtet zu haben. Gutmenschen sind vielleicht die unehrlichsten Teufel unter allen höllischen Plagegeistern, also jene, die sich stets herausnehmen, sich somit aller Menschlichkeit berauben. Sie sind keine Menschen, so behaupten sie selbst es, denn wären sie es, dann würden sie die Möglichkeiten erkennen, die im Menschen sich behaupten. Sie würden klar ausrufen: Auch ich wäre Henker, auch ich wäre Opfer. Die Möglichkeiten von Lebensläufen vereiteln schlicht den einen oder anderen Gang. Der eine endet am Kreuz, der andere schlägt die Nägel.

Wo wir gerade in der Bibel blättern, wollen wir auch rasch noch Nietzsche beizerren (denn an dem hat sich Bataille eindeutig lesbar und leider geschult, muss doch eine solche Schule meist im sprachlichen Desaster enden), der uns den edlen Pontius Pilatus neu vorstellte, als jenen, der eine der wichtigsten Fragen des Denkens stellte: „Was ist Wahrheit?“ Eine solche Frage entklammert, entlässt den Menschen in die Unmündigkeit, die wir antreffen, stoßen wir auf den Schmerz. Kehrt der reine Körper in einem Vernichtungslager zu uns zurück, verliert alle Sprache ihre Mächtigkeit, herrscht doch dort nur der Knüppel. Dort kentert der Mensch, er fällt auf sich zurück, wird unmündig, erkennt die Wahrheit als das große Offene des Seins.

Aber Bataille lässt uns nicht alleine, auch er kehrt zum Mythos, zum Humor und zur Poesie zurück, die als Verklärungswaffen nötig sind. Sich abzuwenden, darin erkennen wir den Menschen. Er nötigt den Mythos, will sich Abhilfe verschaffen. Bataille aber wirft uns einen kalten Mythos vor die Füße.

„Nacht ist auch eine Sonne, und die Abwesenheit des Mythos ist auch ein Mythos: der kälteste, der reinste, der einzig wahre.“

Und an anderer Stelle schreibt Bataille: „Es steht nicht jedermann frei, nicht zu meiner Abwesenheit von Gemeinschaft zu gehören. Ebenso ist die Abwesenheit des Mythos der einzige unvermeidliche Mythos: der die Tiefe erfüllt wie ein Wind, der sie leerfegt.“

Natürlich scheint da in manchen Spracherhebungen noch der Surrealist Bataille durch und natürlich schadet das seiner Sprache. Zu schnell wirken bei Bataille die Worte pathetisch-manieristisch aufgepumpt, ein wenig des von ihn geforderten Weniger hätte auch ihm gut getan.

Aber die Sprache verschuldet sich schnell, das merke ich selbst. Ich lese meine Worte, die ich hier gesucht habe und die mich gefunden haben, und denke: Hätte das nicht besser gehen können. Wo ist der Ärmel, aus dem ich sie mir hätte schütteln mögen. Stattdessen klumpten sie mir aus der Stirn, die für einen Moment durchlässig wurde. Da fällt manches, wohl aber leider keine transparente Sprache. Ob es auch Bataille so gegangen ist? Neigt man zum schwerfällig gravitätischen Duktus, wenn man sich über die Ausgesetztheit des Menschen äußert. Ich denke nicht. Andere tanzen über solche Flächen. Tanzbilder erinnern natürlich gleich wieder an Nietzsche. Der war mehr Evangelist denn Autor. Die Wüste, die er sich wünschte, bannte er stets noch mit einem Zuviel an Gestus. Auch da gleicht ihm Bataille.

Aber man kommt nicht umhin, sich mit Bataille zu beschäftigen. Er öffnet die Augen, die Poren, den gesamten Körper. Es ist an der Zeit, Bataille neu und vollständig zu entdecken. Man verlässt seine Textkuren ein Stück weit nackter, und das ist schon viel in der heutigen Textilliteratur, die einen mit immer dichter verwebten Stoffen umgarnt. Man schwitzt eine Weile mit ihm und geht dann für Stunden geläutert wieder seines Weges. Da bietet sich an, immer einen Bataille in der Tasche zu haben. Gerät man in die Gefahr der Hoffnung, dann greift man zu und entdeckt in ihm die Chance der Hoffnungslosigkeit. Denn wer will schon mit der schlimmsten aller Plagen, der Hoffnung, leben. Nur Fatalisten rechnen alle Möglichkeiten der Welt mit ein. Sie springen über den Schatten der eigenen Gewissheit, springen hinab in die Kühle eines klärenden Nichts. Wir sind nicht zu erklären. Wir sind nur zu bestaunen. Willkommen im Zoo der Menschheit.

 

Guido Rohm

 

Georges Bataille: Henker und Opfer, Mathes & Seitz Berlin 2008

 

Cohen+Dobernigg Buchhandel

 

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