23. November 2008

Königinnen des Schreckens

 

Meinen ersten Comic habe ich Anfang der 1970er Jahre von meiner Großmutter geschenkt bekommen: An einem Kiosk kaufte sie mir ein „Bessy“-Heft aus dem Bastei-Verlag. Damals war ich gerade eingeschult worden und hätte vermutlich überhaupt nichts mit der Tatsache anfangen können, dass es sich um die deutsche Ausgabe eines flämischen Comics aus dem Studio des ehrwürdigen Willy Vandersteen handelte. Erst auf dem Gymnasium, als ich die „Tim und Struppi“-Bücher von Carlsen entdeckte, begann ich langsam zu sammeln und mich nach Sekundärliteratur zu erkundigen. Zunächst ließ ich nur die frankobelgischen Alben gelten, später erweiterte sich mein Blickwinkel – mit „The Dark Knight Returns“ von Frank Miller und „Watchmen“ von Alan Moore und Dave Gibbons um Superheldencomics, mit „Hadashi no Gen“ von Keiji Nakazawa und den Werken von Osamu Tezuka schließlich um Mangas. Inzwischen hat sich sowohl auf der Angebotsseite als auch bei der Quellenlage einiges verbessert, wodurch ich viele meiner ehemaligen Überzeugungen als unhaltbare Vorurteile beiseitelegen konnte.

Doch so neutral, wie sich die unsichtbare Hand des Marktes gibt, ist sie nicht. Es gibt immer noch Verwerfungen und Verzerrungen, die zu merkwürdigen Effekten führen. Allerdings sind diese Lücken in der Wahrnehmung dermaßen subtil, dass diese blinden Flecken erst auf den zweiten Blick ins Sichtfeld geraten. Um zwei dieser blinden Flecke geht es mir hier: Comics von Frauen und Fumetti aus Italien.

Sicher, seit Marjane Satrapis Erfolg mit „Persepolis“ und Alison Bechdels „Fun Home“ wird wohl jede und jeder wenigstens einen Titel aus weiblicher Feder auf Anhieb nennen können. Dieser Erfolg betrifft aber lediglich oberflächlich die Gegenwart, doch wie nachhaltig sind diese Ausnahmen? Wer kennt denn heute noch die vier großen Pionierinnen des frankobelgischen Comics – Claire Bretécher, Chantal Montellier, Jeanne Puchol und Nicole Claveloux? Damals hat es auch diverse Artikel in der Presse gegeben, und zumindest Bretécher war sogar in deutschen Landen Allgemeingut und Maßstab z.B. für Franziska Becker. Für eine Wiederentdeckung ist das zu wenig, denn dafür sind eigenständige Publikationen zwingend notwendig – das Mindeste sind Kataloge von Einzelausstellungen, besser noch Monografien, Biografien und andere kritische Würdigungen, über die Neugierige zufällig stolpern können.

Und Fumetti? Comics aus Italien haben sich im Gegensatz zu den Importen aus Übersee, sprich Amerika und Asien, in Deutschland beim breiten Publikum bislang nicht durchsetzen können, sondern blieben einem Zirkel erlesener Connaisseurs vorbehalten. Sprach- und Zollgrenzen errichten innerhalb der Europäischen Union Zäune der gegenseitigen Ignoranz, sodass unbekannt bleibt, was anderswo ein nationaler Bestseller ist. Tiziano Sclavis „Dylan Dog“ (zunächst bei Carlsen, jetzt bei Schwarzer Klecks) bestätigt als Ausnahme von der Regel diese Verwerfung. Was in den USA bestellt werden muss, ist häufig schon am nächsten Tag da, während Importe aus dem Vereinigten Königreich schwierig sind. Die italienischen Importe befinden sich da gewissermaßen im toten Winkel.

Mir geht hier um einen Band, der in beide Kategorien fällt. Wie die wenigen Monografien über andere Cartoonistinnen (die anderen sind über Nell Brinkley und Rose O’Neill aus den USA, Fiep Westendorp aus den Niederlanden und jüngst erst Tove Jansson aus Finnland) erscheint auch diese postum, vielleicht wird Alison Bechdel die erste sein, die zu Lebzeiten mit solch einer Analyse gewürdigt wird. Ich nehme jedoch an, dass der von den beiden Mädchen aus Mailand erfundene Held, „Diabolik“, der König des Schreckens, dem Deutsch sprechenden Publikum wenigstens dem Namen nach bekannt ist.

Die Figur Diabolik ist Teil der italienischen Kultur, der ein eigenes Genre geprägt hat, die Fumetti neri, und zur italienischen Comicgeschichte gehört. Die Fumetti neri sind die Comicvariante des Giallo, des schmutzigen italienischen Kriminalromans mit ambivalenten (Anti-)Helden und erotischen Frauen in einer korrupten Umgebung. Eine handliche Aufarbeitung des Gründungsmythos Diabolik war deshalb längst überfällig. Weil eine deutsche Übersetzung des Bandes von Davide Barzi und Tito Faraci mehr als unwahrscheinlich ist, hier das Wichtigste in Kürze.

Diabolik entstammt der Fantasie der Schwestern Angela und Luciana Giussani, die im großbürgerlichen Mailand aufwuchsen – väterlicherseits sind sie über einige Ecken mit dem K.u.k.-Marschall Radetzky verwandt, mütterlicherseits mit der Schweizer Oberschicht. Die ältere Schwester Angela erblickte 1922 das Licht der Welt (und verstarb 1987), Luciana 1928 (und folgte ihrer Schwester 2001). Die treibende Kraft, Angela, besuchte eine Schule der Unitarier und gehörte zu den ersten Frauen, die das jüngst eingeführte Recht auf weitere Ausbildung nutzten. Sie heiratete ihren Freund aus Kindertagen, Gino Sansoni, einen Fußballfan (AC Mailand) sowie Gründer, Leiter und Geschäftsführer des Verlages Astoria (dt. Stern). Die konservativ emanzipierte Angela beschränkte ihre Rolle nicht aufs Repräsentieren, sondern wurde aktiv, indem sie – unterstützt von Schwester Patricia – ihren eigenen Verlag gründete, den sie Astorina (dt. Kleiner Stern) taufte. Die Fotomodelle (Luciana wurde 1948 „Miss Sport“) und Fliegerinnen veröffentlichten zunächst klassische Zeitschriften für Frauen, doch irgendwann wollte Angela die Bahnhofskioske erobern.

In der Nachkriegszeit wuchsen um die Industriemetropolen im nördlichen Italien die Vorstädte, aus denen die in den Fabriken Beschäftigen werktäglich pendelten. Die übliche halbe oder dreiviertel Stunde Fahrt konnte durch leichte Lektüre als neues Marktsegment genutzt werden. Quasi am Reißbrett entstanden die seit 1960 ersten Entwürfe, doch die erste Testnummer erschien erst im November 1962, die eine Stunde Spannung versprach. Der zweite Versuchsballon platzte im Januar 1963 ebenso desaströs. Die Lösung war verblüffend, zumal sich der italienische Verband der Verleger von Kinderzeitschriften im April 1961 in Florenz zu einem Kodex durchgerungen hatte, der als interne Selbstzensur die Branche vor Angriffen von kirchlichen, kommunistischen und sonstigen Sittenwächtern schützen sollte. Denn zur Mobilisierung potenziellen Publikums wurden einige Nummern an norditalienischen Schulen verteilt. Und bevor sich die Schwestern Giussani versahen, wuchs die Nachfrage eminent, und fast täglich musste sich der Nachfahre von Arsène Lupin und Fantomas gegen mehr Imitationen seiner selbst behaupten. Dino de Laurentiis plante eine Verfilmung auf höchstem Niveau: Als Regisseur wurde Mario Bava gewonnen, der Wunschkandidat für Diabolik war Alain Delon, und von der Kinolegende Catherine Deneuve in der Rolle von Diaboliks Freundin und Komplizin Eva Kant findet sich sogar ein Probefoto in der Monografie.

In den goldenen Jahren etablierte sich „Diabolik“, dessen Glanz zwar auf seine modernen Nachfolger abstrahlte – „Dylan Dog“ seit den 1980er Jahren, Luca Enochs „Sprayliz“ seit den 1990er Jahren –, jedoch auch langsam verblasste. Mit der faszinierenden Eva Kant schufen die Schwestern Giussani eine selbstbewusste weibliche Figur, die für Mädchen und Frauen zum Vorbild wurde. Die Politik im Hause selbst gestaltete sich jedoch erzkatholisch und konservativ: Als die italienische Regierung 1970 ein Gesetz zur Scheidung! einführen wollte und sich mit einem Referendum absicherte, fand sich in einer „Diabolik“-Ausgabe ein Abdruck eines Stimmzettels mit einem angekreuzten Nein, das mit dem Hinweis auf 600 Millionen Katholiken und anständige Italiener demonstrativ eingefordert wurde. Bei Astorina arbeiteten viele Frauen, und als Ende der 1960er Jahre zwei Stellen ausgeschrieben wurden, eine als Sekretärin, die andere am Zeichentisch, bewarb sich die junge Grafikerin Patricia Martinelli. Mit zwei anderen jungen Frauen wartete sie im Vorzimmer, bis sie aufgerufen wurde. Auf die erste Frage, wie viele Anschläge sie denn schaffe, antwortete sie konsterniert, sie wolle zeichnen. Die einzigartige Mischung aus konservativen Konzepten und transgressivem Potenzial behauptete sich zwar in der Populärkultur, doch schon in den 1970ern verstaubte der Ruhm und Diabolik wurde zum Mythos seiner selbst. Mit dem Geschäftsführer Mario Gomboli, der nach dem Tode Patricia als Geschäftsführer des Verlags das Erbe der Schwestern in den bleiernen Jahren antrat, fand eine Modernisierung ähnlich der Superheldenserien in den USA statt. Eine Zeichentrickserie mit deutlichen Einflüssen aus dem Anime-Bereich sollte neue, jüngeres Publikum gewinnen, während die Serie bis heute fortgesetzt wird.

Barzis Doppelbiografie ist seine Bewunderung für das Lebenswerk der beiden Schwestern anzumerken, die er mit zahlreichen Anekdoten aus dem Privat- und Verlagsleben lebendig gestaltet. Er gliedert seine Monografie in zwölf übersichtliche, chronologisch geordnete Kapitel, die er mit zeitgeschichtlichen Schlaglichtern auf die jeweils aktuelle Politik und Kultur einleitet. Jedem Kapitel folgen eine Seite mit bibliografischen Angaben, ein Abschnitt mit Reprints von Fotos und Faksimiles von Dokumenten wie Zitaten aus der Serie oder Kinoplakaten und ein kursiv gedruckter Abschnitt aus einem juristischen Briefwechsel von 1969, der mit dem Urteil endete, dass „Diabolik“ nicht verboten wurde. Im selben Format wie die Serie selbst lässt der Sekundärband Sammlerherzen höher schlagen, die zweite Folge der Serie „Storie di segni“ bei dem Verlag Edizioni BD aus Mailand, obwohl er nicht perfekt ist: Manche Reproduktionen wirken ärgerlicherweise ziemlich blass, was wohl den Vorlagen geschuldet ist, an denen der Zahn der Zeit genagt hat, und wer kein Fußballfan ist, dürfte die ausführlichen Aktivitäten über den Fanclub des AC Milano deplatziert finden. Trotz dieser Makel dürfte Barzis Dokumentation als Referenzwerk italienischer Comicgeschichte in den nächsten Jahrzehnten den Weg in zahlreiche private und akademische Bibliotheken finden.

 

Britta Madeleine Woitschig (11/09)

 

Davide Barzi mit Tito Faraci: Le Regine del Terrore. Angela e Luciana Giussani: le ragazze della Milano bene che inventarono Diabolik (Storie di segni 2), Edizioni BD 2007, 222 Seiten, ISBN 88-89574-72-0