8. November 2008

Kein Kanon, höchstens Kanönchen

 

Während die aktuellen Klingelton-Charts die meisten Platten-Nerds kalt lassen dürften, sieht das bei den Spex-, de:bug- oder Klaus-Walter-Jahrescharts schon anders aus. Da will man unter Umständen schon mal gegenchecken, ob man eventuell was nicht mitbekommen hat und vor allem: ob der eigne Musikgeschmack cool oder gar cooler als der Konsens ist. Gleichzeitig laden die Dinger ja prima zum fachsimplen und bierseligem Kneipendiskurs ein. „Was die neue Robert Wyatt nicht unter den Top-5-Alben, aber dafür irgendein bescheuerter New Rave Act? Was ist New Rave überhaupt?“ Und so funktionieren Jahrescharts und Top-Ten-Listen als Ausdruck von individuellem oder kollektivem Geschmack als Geschmacksverstärker, da sowohl die Übereinstimmung wie auch die Abweichung des eigenen Geschmacks von der Liste diesen als noch ausgesuchter erscheinen lassen kann. Hat ein Album erst einmal den Obolus erhalten, in der jeweils nischenrelevanten Top-Ten oben platziert zu sein, hat es wiederum gute Chance eine Referenz zu werden, an der sich zukünftige stilverwandte Produktionen messen müssen. Wer in den 90ern mal den Katalog des Malibu-Platten-Mailorders gesehen hat, wird sich vielleicht daran erinnern, wie viele Bands sich an Zen Arcade von Hüsker Dü messen lassen mussten.

Diese Prozesse der Geschmacksverbreitung und Traditionsbildung sind zwar in den Marketing-Abteilungen von Plattenfirmen teilweise bekannt, in der musiksoziologischen Diskussion wohl bisher jedoch kein großes Forschungsthema. Im Gegensatz zur Literaturwissenschaft, in der die Forschungen zu Kanonisierungsprozessen schon länger ein interessantes Forschungsfeld ist. Top-spanned daher, auch Kanonisierungsprozesse im Feld der populären Musik zu untersuchen. Aber warum eigentlich Kanon? Ist eine Bestenliste schon ein Kanon? Der Kanon ist ursprünglich ein Maßstab, an dem es sich zu orientieren gilt und in seiner Begrifflichkeit dem Bauwesen entlehnt und hauptsächlich für religiöse Belange benutzt. Der gute Jan Assmann spricht im Bezug auf den Kanon von der „Null-Abweichung in der Sequenz der Wiederholungen“, und den begreift den Akt der Schließung als dessen Voraussetzung. Mit diesem Verständnis von Kanon ist natürlich in der Literatur und schon gar nicht in der Popmusik etwas zu holen. Denn weder von Null-Abweichung noch von Schließung kann hier die Rede sein. Selbst wenn in einer bestimmten Nische das erste Napalm-Death-Album als unumstößlicher Maßstab gilt und einzelne Fans so tun, als sei ein Werk der Innbegriff des Kanons: Unumstößlich ist hier natürlich nichts. Das Beach-Boys-Album Pet Sounds, das heute als Jahrhundertalbum gehandelt wird, war dies aus Kritikersicht zur Zeit des Erscheinens ganz und gar nicht. Die Schließung des Kanons, von der Assmann ausgeht, hat natürlich in der Moderne keine Chance, da es in der ausdifferenzierten Gesellschaft ohne religiöse Übercodierung keinerlei Instanz gibt, die eine Schließung und Reinhaltung des Kanons beschließen und bewachen könnte. Auch dürfte es schwierig werden, eine Position in der Gesellschaft zu finden, von der aus man einen allgemeingültigen Geschmackskonsens proklamieren könnte. Geschmack und kulturelles Ansehen sind zeitunterworfen und somit wandelbar und umkämpft. Es stellt sich daher die Frage, ob der Begriff des Kanons im Zusammenhang mit Popmusik Sinn macht, oder ob es nicht sinnvoller wäre, von Traditionen oder Erinnerungsgemeinschaften auszugehen. Oder aber man historisiert den Begriff und kontextualisiert ihn eben in dem Sinne, dass er in der Moderne von Vorläufigkeit und Instabilität gekennzeichnet ist.

Diesen Zusammenhang reflektiert auch Herman Korte in seinem gut lesbaren und reflektierten Beitrag “Was heißt: >Das bleibt< Bausteine zu einer kulturwissenschaftlichen Kanontheorie“, in dem er von einem System unterschiedlicher Kanone spricht. Während der Großteil der Aufsätze sich an Fallbeispielen (Punk, Jazz, Salsa, Heavy Metal, Eminem) orientiert, entwirft sein Beitrag als einziger ein theoretisches Gerüst für die popkulturelle Kanonforschung. Als Eckpfeiler seiner Theorieskizze nennt er neben der Forschungen zur Erinnerungskultur und Identitätstheorien sinnvollerweise vor allem die Distinktionstheorie Bourdieus. Doch so ergiebig es aus akademischer Perspektive auch scheint, Forschung in eine Theorie einzubetten, so wenig theoretische Reflexion wird von den weiteren Autoren in den Aufsätzen umgesetzt. Auch wenn ein Weniger an Theorieaufgepumptheit der Lesbarkeit nützt, hätte doch ein bisschen mehr Bourdieu-Denke dem einen oder anderen Aufsatz gut gestanden. So fallen die einzeln abgehandelten Fallbeispiele mal mehr, mal weniger interessant aus. Erwähnenswert ist der Aufsatz “Pop zwischen Historismus und Geschichtslosigkeit“ von Ralf von Appen, André Doehring und Helmut Rösing. Dieser bietet neben einer theoretischen Verortung auch Empirie in Form von Auswertungen und Vergleichen verschiedener Top-100-Alben-Listen und Beobachtungen zu Kanonisierungsbestrebungen von Popmusik durch Veröffentlichungen auf dem Buchmarkt. Wenn auch die Ergebnisse nicht bahnbrechend sind, so können die Autoren doch einige Auffälligkeiten aus den Listenvergleichen schälen, wie etwa die Tatsache, dass etwa die 80er Jahre dort kaum repräsentiert sind. Schön liest sich auch die Entrümpelung der These, dass Popmusik ein Phänomen sei, dass nur Jugendliche beträfe. „Wenn sie überhaupt je eine Musik der Jugend war, so ist Popmusik heute mehr denn je eine Musik der Jüngeren und Älteren. Das Altern der ersten mit Pop sozialisierten Generation der um 1950 Geborenen sowie die Ausweitung der Adoleszenz in das als erwachsen geltende Lebensalter hinein führen zu einer gesellschaftlich als legitim(er) betrachteten Beschäftigung mit Pop.“ Und deswegen kann sich die Knapp-unter-40-Generation auch noch die nächsten paar Jahre in Kneipen darüber streiten, welches Sonic-Youth-Album das Größte ist und ob Bug von Dinosaur JR an You are liviung all over me rankommt.

 

Jens Kiefer

 

Dietrich Helms & Thomas Phleps (Hg.): No Time for Losers. Charts, Listen und andere Kanonisierungen in der populären Musik. Bielefeld: transcript Verlag. 2008, 175 Seiten, ISBN 978-3-899942-983-1

 

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