8. November 2008

Bericht vom Ende der Welt

 

Kaum ein Winkel dieser Erde ist noch nicht von den Abenteurern des Individualtourismus erobert. Das norwegische Spitzbergen ist einer der wenigen Orte dieser Welt, die noch in ihrer Abgeschiedenheit ruhen. Während das Finanzzeitalter seinen eigenen Untergang eingeläutet hat, kann man auf Spitzbergen die konservierten Ruinen des Industriezeitalters besichtigen.

 

Ultima Thule, so nannte man einst die nördlichste Inselgruppe im Polarmeer Spitzbergen. Und so hieß im vergangenen Jahr auch ein Projekt der norwegischen Regierung anlässlich des Internationalen Polarjahrs, zu dem sie eine Handvoll Schriftsteller in den hohen Norden eingeladen haben. Sie sollten dort sehen, welche klimatischen und politischen Entwicklungen sich in diesem vegetationslosen und oft vergessenen Gebiet abspielen und abgespielt haben. Der fortschreitende Klimawandel und die russischen Ansprüche auf den Meeresboden unter dem Nordpol gaben Anlass genug.

Ultima, das „allerletzte, allerfernste Land am Ende der Welt, kurz bevor die wirkliche Unendlichkeit beginnt“, wie der Reiseteilnehmer Cees Nooteboom in seinem begleitenden Essay schreibt, tauchte als imaginärer auch schon auf der „carta marina“ von Olaus Magnus auf. Ultima, ein mystischer Ort, nie gesehen und doch hoffnungsvoll im Geiste eines jeden Seefahrers. Ultima als letzter Halt vor Utopia, diesem Morus’schen Weltenende, dem Nirgendwo, in dem ein besseres, unbeschwerteres Leben beginnt? Oder Ultima als erster irdischer Anlaufpunkt, dem Nichts entronnen, als erste Station nach dem Abstellgleis? Beides trifft nicht auf Spitzbergen zu, denn wer diesen Landstrich betritt, der wird weder seinen Weg zu einem besseren Utopia fortsetzen, noch überhaupt den Marsch ins Irdische antreten wollen, wenn dies die ersten Eindrücke nach dem paradiesischen Utopia sind.

Die raue, vom ewigen Eis geprägte Gegend bietet die Kulisse für ein Leben am Limit. Im Verlag Schirmer/Mosel liegt nun ein Bildband von Simone Sassen vor, der die Reiseeindrücke der schreibenden Delegation bildlich festgehalten hat. Es sind meist menschenleere, ja lebensleere Bilder der trostlosen Einsamkeit, die von der Sinnlosigkeit der Dinge berichten. Über den unendlichen Weiten des eiskalten Meeres, das teilweise wie ein Quecksilberspiegel auf den Bildern erscheint, liegt die graue Unendlichkeit des wolkenverhangenen Himmels, den kargen Steppen schließen sich die Eismassive der arktischen Gletscher und Berge an. Ein farbloser Schrecken der Ödnis, der zugleich einfängt und in seiner Schlichtheit fasziniert. Einladend ist anders, „…aber was soll man sonst von diesen grauen Steinmassen sagen, deren verwitterte graue Ausläufer ins gleichfalls graue Wasser reichen?“, so der niederländische Essayist Nooteboom.

Allein bei der Fotodokumentation des Besuchs der sowjetischen Siedlung Pyramiden kommt Leben in Sassens Fotografien. Gott sei Dank, möchte man fast sagen, müsste man doch sonst in die doppelte Leere der arktischen Geisterstadt schauen. Pyramiden steht seit einer Dekade völlig leer, weil die etwa 1500 russischen Bewohner sie von einem Tag auf den anderen verlassen hatten. Nun warten ihre Ruinen im Eis, frostig konserviert in ihrer Hässlichkeit und Öde. Ein Mahnmal des untergegangenen Industriezeitalters. „Ein kommunistisches Pompeji ohne Leichen. … Als ob eines Tages die Pest ausgebrochen wäre, so liegt alles da. Gebäude leer, Kulturpalast leer, der große, freie Platz mit dem Leninstandbild leer, das Schwimmbad leer“, so Nootebooms Assoziationen beim Blick ins architektonische Vakuum. Brachliegende Industrieruinen, arbeitslose Stahlgerüste und längst veralteter Maschinenschrott – die letzten stillen Zeugen einer größenwahnsinnigen Zivilisation. Sassens Bilder erzählen so auch eindrucksvoll vom Ende einer Ära, die wir in ihrer konkreten Gestalt schnell aus unserem Gedächtnis radiert haben. Drohenden Götzen gleich wurden dessen Überreste abgerissen und geschliffen, ohne an deren mahnendes Vermögen zu denken. Was in Deutschland und anderswo seit Langem nicht mehr steht, kann man sich mit diesem Bildband tiefgefroren ins Gedächtnis zurückrufen. Die verlassenen Bilder von Marx und Lenin wirken dann in ihrer Unversehrtheit nachgerade metaphorisch wie eine Mischung aus Resignation, Trotz und Drohgebärde: „… denkt dran, ich bin noch nicht weg. Vielleicht heiße ich demnächst Putin oder Medwedew oder Gazprom oder einfach wieder Russland …“

„Ultima Thule“ ist ein endrucksvoll komponierter Band, der den Weg aus der Einöde erst in den letzten Bildern Simone Sassens findet. Nach dem endlosen arktischen Grau taucht hier erstmals Farbe auf, die nach diesem Ausflug ins Eis kräftiger kaum sein könnte: Die Farbe warmen, Leben einhauchenden Sonnenlichts.

 

Thomas Hummitzsch

 

Simone Sassen: Ultima Thule. Eine Reise nach Spitzbergen. Mit einem Essay von Cees Nooteboom. 101 farbigen Fotografien. Schirmer/Mosel Verlag. München 2008. 128 Seiten. 29,80 €. ISBN: 978-3-8296-0384-3

 

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