13. Oktober 2008

„Umarme deine innere Leiche!“

Buch Handlung Welt, Hamburg, Marktstraße 1980

(Andrew Boyd)

 

 

Von Carsten Klook

 

Katalogtext anlässlich des Festivals "Wir nennen es Hamburg" des Hamburger Kunstvereins und Kampnagel, Oktober 2008

 

 

Die Geschichte der sogenannten Off-Szene bezieht sich nicht nur auf Räume, in denen Kunst, Musik, Literatur, Theater, Film und alle Verbindungen dazwischen stattfinden können, sie existiert in Hirn, Herz und Seele als Space, als Raum der Bedingungen. Off ist eine Lebensform und -einstellung. Eine politische, ästhetische und soziale Bewegung, die auf Zustände mit den Mitteln der Kunst reagiert. Es ist auch eine Geschichte der Außenseiter und deren Radikalität, sich als Mensch mit dem, was man ist, sein will und produziert, keinem Markt und keiner offiziellen Geschichtsschreibung unterwerfen zu wollen. Freiheit den Inhalten und der Formen ist die Maxime, Wahrheit das Blut. Ob das funktionieren kann, ist eine andere Debatte.

Wenn nichts frei gemacht werden kann an Noch-Unver(k)linktem im Kopf, nutzt auch das 200qm-Loft oder die verschmuddelte Souterrain-Galerie wenig. Und auch keine Bezuschussung (oder Streichung derselben). Wo das Leben im wöchentlichen 40-Stunden-Takt zu Angepasstheit und einer nur scheinbaren Individualisierung führt, muss Off mehr sein als „ein buntes Treiben“ zwischen St. Pauli, Karoviertel und Eimsbüttel. Off heißt, brechen mit dem, was historisch als zu(ver)lässig und gesichert gilt, heißt, sich hinauszubegeben ins Vage. Daher müsste es in diesem kurzen Abriss, dieser zusammengeschrumpften Abrissgalerie von Text über die letzten 28 Jahre Gegenwinkel dieser Stadt, nicht nur um Orte und Unterinstitutionen, sondern um die Idee(n) dahinter, darüber, darin, davor oder drum herum gehen. Dafür ist aber – wie so oft – zu wenig Platz und nicht genug Geld da.

Off ist keine Nische ... das klingt ohnehin zu verschnupft ...  es ist ein 360-Grad-Lebens(t)raum, der mehr als auratische Bedeutung und Wirkung hat. Für alle Beteiligten. Im OFF zu sein, heißt im besten Fall entfunktionalisiert zu sein von den Absichten der Kulturverwalter, -sammler und -sortierer, der Geschichte der anderen und den Bannern der Vereinnahmung. Wäre dem ganzen Unterfangen nicht inzwischen der Zahn gezogen ... und OFF oft nur noch ein Sprungbrett in die nächst höhere Etage ... oder täuscht das?

Es begann natürlich auch früher. Aber 1980 als Markette geht in Ordnung. Wer in die 1977 eröffnete „Buch Handlung Welt“ in die Marktstraße ging, konnte sich als Kultur-Terrorist betrachtet sehen, von sich selbst oder von anderen. Man war Ex-Hippie, Ex-Punk, oder beides, und rebellierte gegen die, deren Rebellion versackt war (also auch gegen sich selbst). Man fühlte sich insgeheim dazugehörig zum Kreis derer, die etwas im (Preis-)Schilde führten, ein Gesellschafts- oder ein Art Attack etwa. Gefährliches schien in den Regalen zu lauern und im Blick der Betreiberin Hilka Nordhausen. Ein skeptisches Beäugen, ein beiläufiges Abgeklopftwerden: Basskontrolle? Fast wirkte es, als strahlte die legendäre Dame genau das aus, wovor sich die mentalen Widerständler der 70er Jahre am meisten fürchteten: The old grey Gesinnungstest. Bist du es auch wert, diese heilige Halle zu betreten? Das war die Schwelle, die man zu überqueren hatte. Eine Tradition, die in allen Zirkeln gewahrt bleiben muss, so scheint es auch heute. Um sich diese Frage selbst zu stellen. Das Grundproblem der Nachfolgegeneration („den 77ern“, die irgendwo zwischen (Post-)Punk und Studium herumeierten und das Musikmagazin SOUNDS zur neuen Bibel auserkoren hatten), mit den kulturrevolutionären Zellen der alten Schule, die mir persönlich auch als Kulturjournalist der taz hamburg ab 1982 mit einer merkwürdigen Mischung aus Skepsis und Wohlwollen begegneten.

In der „Buch Handlung Welt“ wurde Kunst nicht gesichtet und verkauft, wie in einem Kaufhaus. Hier wurde sie a) zerstört, um sich neu zu erschaffen b) als Ergebnis dieses Prozesses gelebt. Dada und Fluxus, Beat-Literatur, Poesie und Wandbild, Film- und Diaprojektionen, Performances, Verzweiflung und Verweigerung hatten hier ihre Anlauf- und Auslaufstelle. „Das Konzept der Wand war der Ausdruck einer neuen Position“ (Hilka Nordhausen). Markus und Albert Oehlen, Walter Dahn, Jiri Georg Dokoupil, Martin Kippenberger, Bernd Skupin, Michael Deistler und viele andere gestalteten die Wand oder zeigten Rauminstallationen. Heinz Emigholz projizierte seine Filme, Ed Sanders machte eine Performance, Kiev Stingl, Christoph Derschau, Ralf Thenior, Daniel Dubbe, Uli Becker und Anna Rheinsberg lasen, der konkrete Poet Eckardt Rhode machte sogar eine einwöchige Leseaktion. In der „Buch Handlung Welt“ konnte man Vlado Kristls superschmale Bücher aus dem 1.- DM Verlag in die Hand nehmen, oder Anthologien und Literaturzeitschriften wie „Boa Vista“ (u.a. mit Bernd Cailloux), „Analle“, „Mezzotinto“, „Lose Blätter Presse“ und „Henry“/“Nanzy“. Eine große Mixtur der Einflüsse und medialer Konzepte war einseh- und greifbar. Ein Aufbruch in eine Zeit, in der sich ein Reichtum an ungeahnten Möglichkeiten offenbarte. Möglichkeiten für ein anderes Leben, andere Ausdrucksformen jenseits der Zwänge im staatlichen Kultur- und Gesellschaftsbetrieb. Die „Buch Handlung Welt“ darf als Urzelle einer Off-Bewegung in Hamburg angesehen werden. Über diese Zeit existiert eine beeindruckende Dokumentation, deren Titel als Programm aufgefasst werden kann: „dagegen – dabei“, zusammengestellt von Hans-Christian Dany, Ulrich Dörrie und Bettina Sefkow, 1998 erschienen in der Edition Michael Kellner. In der „Buch Handlung Welt“ entstand auch der „weltbekannt e.V.“, der von Ulrich Dörrie (später Galerie „Dörrie*Priess“) betrieben wurde und nicht nur Aufsehen durch seine Schaukästen im öffentlichen Raum erregte, in denen Künstler ausstellten.

Von der „Buch Handlung Welt“ war es nicht weit zu Klaus Maecks Plattenladen „Rip Off“, zu Fanzines und Filmen („Amok/Koma“, „Decoder“) und zu Alfred Hilsbergs 1980 gegründetem Musiklabel „ZickZack“ (später auch „What´s So Funny About“, „Cashbeat“ und „Scratch´n´Sniff“), die unter dem Motto standen „Lieber zu viel als zu wenig“ – und noch immer existieren. Hilsberg hat mit seinen hunderten von Veröffentlichungen für Hamburg mehr getan, als mancher Bürgermeister. Mit Diedrich Diederichsen, Michael Ruff und vielen anderen Journalisten entstand in der Musikzeitschrift „Sounds“, die die neue Musikszene in Deutschland vorstellte, ein neues polit-ästhetisches Bewusstsein, das anders als in den 70ern, auch einen Hedonismus empfahl, der nicht nur dem angloamerikanischen Kulturraum entstammte. Ein neuer Geist, der u.a. von Bands wie Palais Schaumburg, Abwärts, Andreas Dorau, den Einstürzenden Neubauten, Saal 2 und Die Zimmermänner geprägt wurde. Albert Oehlen gestaltete Plattencover, Künstler und Journalisten wurden zu Musikern („Nachdenkliche Wehpflichtige“), A.R. Penck, Immendorff, Kippenberger und Oehlen nahmen die 1984 auf „ZickZack“ veröffentlichte LP „Die Rache der Erinnerung“ auf.

Bei „Möbel perdu“ von Claudia Schneider-Esleben, Schwester des „Kraftwerk“-Musikers Florian Schneider, wurde nicht nur neues deutsches Design ausgestellt, es fanden auch Konzerte und Partys statt. Auch das Künstlerhaus Weidenallee war offen für Musikveranstaltungen der neuen Szene.

Uli Rehberg betrieb von 1976 bis 2003 das Schallplattenfachgeschäft „Unterm Durchschnitt“, in dem Punk aus Hamburg ebenso wie experimentell-elektronische Musik, Noise- und Industrial-Sounds erhältlich waren. Auf Rehbergs 1980 gegründetem Label „Walter Ullbricht Schallfolien“ veröffentlichten internationale Bands wie Laibach, Throbbing Gristle und SPK.

Das Bermuda-Dreieck im Schanzenviertel bestand aus den Lokalitäten Subito, Luxor und Kir (letzteres betrieben von Clemens Grün, der erst das Kir-Magazin unter der Schirmherrschaft von Götz Achilles veröffentlichte und später in der Morgenpost unter dem Chefredakteur Wolfgang Clement die Pop-Seite einführte und dort überzüchtete Poptheorien verkündete). In diesem Dreieck, einer weiteren  Keimzelle, fand sich ein, wer als Musiker, Künstler  oder Schreiber Gleichgesinnte der neuen Wildheit treffen wollte.

Fredericke Frei, die in den 70ern mit Bauchladen über die (Umsonst & Draußen-)Festivals in den Baugruben des Hamburger Umlands und durch ganz Deutschland gewandert war, um Texthappen oder Gedichte auf farbigen Pappkartons für eine Mark zu verkaufen, (die schon 1978 die Deutschlehrer auf die Schultische zur Diskussion legten), hatte ein anderes Programm. 1980 gründete sie die „Literaturpost“ in Eimsbüttel, aus der später das „Literaturlabor e.V.“ wurde. Der umtriebige Personenvernetzungsfachmann, Multimediakünstler und Mandolinenspieler Felix Schröder hielt u.a. in Mümmelmannsberg ein Literaturcafé ab, in dem Hausfrauen, Kinder und Dahergelaufene mit E-Gitarre unterm Arm frei von der Leber sich selbst oder andere zitieren durften.

Selbst geschaffene Zusammenhänge, Netzwerke, Treff- und Veranstaltungsorte hat es nach der „Buch Handlung Welt“ viele gegeben. Das leer stehende Haus eines Altenwohnstiftes im Karoviertel wurde in den 80ern besetzt und in das Künstlerhaus „Vorwerkstift“ verwandelt. 1984 eröffnete Jörg Immendorff das „La Paloma“, die Kunst wanderte demonstrativ in die Kneipe. Immendorff setzte noch eine Skulptur von Hans Albers auf den Platz davor. Der Künstlerzusammenschluss „Keine Einigung“ (mit dem österreichischen Filmemacher Florian Flicker u.v.a.), der 1985 am Rödingsmarkt entstand, veranstaltete Ausstellungen und Konzerte, verband Leben und Arbeiten. 1986 folgte das „Westwerk“ in der Admiralitätsstraße, wo eine neue Form der interdisziplinären Zusammenarbeit entstand und die Projekte in Ausstellungen und Konzerte gezeigt wurden und werden. Auch nahm die Gruppe von Künstlern großen Einfluss auf die Geschichte der Fleetinsel. Tobias Levin veröffentlichte mit der Band „Cpt. Kirk &.“ das Album „stand rotes Madrid“, das eine neue Ära und andere Dringlichkeiten im deutschen Musik-Underground einleitete. Jahre später zog Levin ins „Westwerk“ und errichtete dort sein „Electric Avenue“-Studio, in dem er die Musik vieler neuer Bands produziert (hat). Mitte der 80er-Jahre entstand auch die Kultur-Zeitschrift „Nuvox“ um Till Briegleb, ein kurzlebiges Gegenprojekt zur „Spex“. Später zog im Souterrain des Gebäudes an der Neuen Gröninger Straße das Musikstudio der Plattenfirma „L´age d´or“ ein, die u.a. die Band „Kolossale Jugend“ mit den expressionistischen Texten des Sängers Kristof Schreuf unter Vertrag hatte. Das „Trasch-Center“ in Ottensen wurde 1987 ins Leben gerufen. Die Gruppe von Malern, Musikern und Aktionisten um Lothar Mattejat, die sich u.a. als Neo-Dadaisten verstanden, veranstaltete neben vielen (Kunst-)Aktionen, die auf politische und soziale Missstände hinwiesen, auch Musikfestivals mit Hamburger Bands. Daraus wurde ein Sampler, der, in einer 1000er-Auflage gepresst, mit 1000 handbemalten Cover versehen wurde. Ein Cover-Art-Award in den USA folgte. Daniel Richter saß noch hinter der Kasse des Plattenladens Zardoz und übte das Agitieren auf der Kanzel.

In der Markthalle (und im „Mitternacht“, 30 Meter hinter dem „La Paloma“), spielten US-Bands das, was später als Grunge-Rock mit Nirvana in die Annalen der internationalen Musikgeschichte eingehen sollte. 1988 las die Autorengruppe PENG (Lou Probsthayn, Reimer Eilers, Nicolas Nowack und Gunter Gerlach) in einer Peep-Show auf St. Pauli. Im selben Jahr schlug Corny Littman auf der anderen Seite der Reeperbahn seine Zelte mit dem „Schmidt Theater“ auf. In der Galerie Abriss in der Bernhard-Nocht-Straße fanden Ausstellungen, Lesungen und Parties statt.

Roberto Ohrts Werke „Phantom Avantgarde“ und „Das große Spiel“ erschienen zu Beginn der 90er. Der Nautilus-Verlag hatte vorher schon Schriften von Guy Debord und den Situationisten veröffentlicht, aber der Kunsthistoriker Roberto Ohrt (auch Mitherausgeber des Magazins „Die Beute“) brachte Licht ins Dunkel der Situationistischen Internationalen und den politischen Auswirkungen ihrer Aktionen.

Jürgen Abel gründete Ende der 80er Jahre das Magazin „LiteraPur“ für experimentelle Literaturformen. Dabei waren als Redaktionsmitglieder Joachim Helfer, Farhad Showghi, Mirko Bonné, Carsten Klook und der Bildende Künstler Andreas Schwarz. Jahre später entwickelte sich daraus die Literaturgruppe „Werft“ mit anderer Besetzung.

Die Bands „Blumfeld“ mit Jochen Distelmeyer, „Brüllen“ um Kristof Schreuf und „Cpt. Kirk &.“ spielten unter dem Slogan „Verfolge den Prozess!“ gemeinsam im Westwerk und wurden danach (mit anderen Bands wie „Die Sterne“) unter dem unheilvollen Begriff „Hamburger Schule“ verbucht und gebrandmarkt. Diese Lager veränderten das Musikmachen in Deutschland ebenso nachhaltig wie einst „Palais Schaumburg“, „DAF“ und “Die Einstürzenden Neubauten“. „Blumfeld“ wurden im deutschsprachigen Raum die Sprecher einer Generation. „Die Goldenen Zitronen“ entwickelten sich in den Neunzigern von der Fun-Punk-Band zum politischen Organ, auf dessen Stellungnahme man sich verlassen konnte, Vorhersehbarkeit inklusive.

Auf der „MS Stubnitz“, die aus Rostock anreiste, wurde in den 90ern am Crossover aller Kulturformen gefeilt und geschweißt. Der Multimedia-Künstler und Professor Mike Hentz betrieb das „Ponton Media Art Lab“ in St. Georg und setzte damit Zeichen für digitale Gegenbewegungen. In der HfBK feierte Hentz mit seiner Klasse Partys als Kunsthappening, in denen er die Erwartungshaltungen der Gäste unterwanderte und acht Stunden lang Schostakowitsch-Sinfonien abspielte. Im 1988 an der Kampstraße gegründeten und 1994 an den Hafenrand umgezogenen Golden Pudel Club war und ist der „nächtliche Alltag“ ein anderer. Bis heute finden im derweil bekanntesten Club Deutschlands Konzerte statt, werden die seltsamsten DJ-Sets gefahren, die poptheoretischsten Lesungen abgehalten. Hier belauschen die Betreiber schon mal ihr Publikum, um sich über deren klischeehaften Szene-Gespräche zu belustigen und  diese in einen Songtext einfließen zu lassen. In einem kleinem Separee des Golden Pudel Clubs wurden zuerst Arbeiten von Diedrich Diederichsen, Isabelle Graw und Jochen Distelmeyer gezeigt. Von 1996 bis 2000 machte die „Akademie Isotrop“, zu deren Mitgliedern auch Jonathan Meese und Daniel Richter gehörten, den Raum zu ihrer Galerie und organisierte Ausstellungen. 2004 übernahmen ehemalige Mitglieder der Akademie (unter ihnen Lutz Krüger und Roberto Ohrt) den Raum und gründeten die „Nomadenoase“, die 2005 bis in Londoner Underground-Kunstszene, ins Salzburger Museum der Moderne und als Skulptur bis in die Mojave-Wüste Kaliforniens vordrang und als Objekt quer durch die USA transportiert wurde.

Cathy Skene und Christoph Schäfer präsentierten 1996 dem Kunstverein die Idee „Park Fiction“, der 1997 ein Planungsbüro am Pinnasberg einrichtete. AnwohnerInnen und KünstlerInnen aus St. Pauli machten sich für den öffentlichen Park an einem Ort gegenüber von Dock 10 stark. Hier hatte die Stadt gerade einen neuen Bebauungsplan beschlossen. Ein Netzwerk aus sozialen Einrichtungen, Anwohnern, KünstlerInnen, Hafenstraßen-Aktivisten und dem Golden Pudel Club begann, die Ideen für eine Gestaltung zu sammeln und den Widerstand gegen die Bebauung zu mobilisieren. „Kollektive Wunschproduktion“ wurde zum zentralen Arbeitsbegriff des Projekts „Park Fiction“. Nach zehn Jahren Kampf wurde der Park 2005 eröffnet. Tausende kamen zum „Dauerpicknick gegen Gentrifizierung“ und protestierten auch gegen die zunehmende Vereinnahmung des öffentlichen Raums durch eine entpolitisierte und desinteressierte Massentourismus-Event-„Kultur“ in St. Pauli.

1992 gründeten der Essayist und Autor Heiko Wichmann und die Künstlerinnen und Autorinnen Claudia Reinhardt und Ina Wudtke das städteübergreifende Kunstprojekt NEID mit einer sich ständig verändernden Konstellation von Autor-, Performer-, Künstler- und MusikerInnen. 1995 führte Ina Wudtke das Projekt alleine fort, das seinen Ursprung in der lacanistischen Auseinandersetzung mit der Lehre von Sigmund Freud („Penisneid“) hatte und als Magazin und Veranstaltungskonzept zum festen Bezugspunkt der Gender-Debatte wurde.

Innerhalb der Hamburger Musikszene begann Mitte der Neunziger ein Wechsel. Bands wie Tocotronic, Kettcar und  Kante entstanden, lösten sich aus dem Schatten bereits bekannter Gruppen und Stilrichtungen und nahmen mehr Einfluss. Heinz Karmers Tanzcafé an der Budapester Straße wurde zum zentralen Treffpunkt der Musikszene (siehe auch Christoph Twickels Buch „Läden, Schuppen, Kaschemmen“). Währenddessen verlor man im KaiFu-Art-Center am Kaiser-Friedrich-Ufer in stundenlangen Jam-Sessions auf umherschwebenden Instrumenten das Gefühl für die Zeit und die angesammelten Arbeiten.

Die Künstlerin, Comic-Filmerin und Autorin Mariola Brillowska und der Musiker Felix Kubin traten mit vielen Newcomern auf Poetry Slams und Gemischtwarenladen-Shows auf (Laola-Club, Liv Ullman-Show). Das B-Movie in der Brigittenstraße gestaltet noch immer ein liebevoll ausgesuchtes Filmprogramm. Die dort ebenfalls stattfindenden Hör-Bar-Veranstaltungen mit ihren Soundscapes- und Noise-Festivals um den Klangforscher und Dozenten Asmus Tietchens bestätigen die unglaubliche Bandbreite künstlerischen Schaffens in der Subkultur. Der „Art Store“ um den Künstler 4000 und anderen Cheap-Art-Künstlern, das legendäre „88“ in den Clemens-Schulz-Straße um Jens Förster und den Tulip-Sänger und Performancier Holger Steen in der Simon-von-Utrecht-Straße und später das „Elektrohaus“ am Pulverteich: die Netze wurden ausgebaut und so fett, das mancher Rechner abstürzte. Entertainer, Musiker und Autor  Rocko Schamoni legte 2000 mit dem Buch „Risiko des Ruhms“ seine Jugend zum Nachlesen aus – gefolgt von Heinz Strunks Bestseller „Fleisch ist mein Gemüse“ aus dem Jahr 2004.

Das „Matrix“, dessen Name an den psychedelischen Live-Club in San Francisco erinnern sollte und namenstechnisch vom gleichnamigen Film überrollt wurde, ist 1999/2000 von F.X. Schröder und Carsten Klook gegründet und betrieben worden. Später folgten die Musikerin Silk Gate und die Künstlerin und Autorin Gabi Schaffner. Ein wildes Programm unterschiedlichster Medialitäten wurde für kurze Zeit in das kleine, ehemalige Blumengeschäft geworfen. Auf der angrenzenden Hollywoodschaukel wurden die Vorträge, Filme, Konzerte, Ausstellungen und Lesungen besprochen – unter dem Gerassel verschlungener Assoziationsketten ging es von Trash, Pop, Dada zur Hochkultur und zurück.

Die Astra-Stube, das Hafenklang und später auch die Schilleroper, übernahmen das Erbe des Kir, was die Buchung von Bands anging, die man sonst in Hamburg nicht zu Gesicht bekommen hätte. „Bright Eyes“ und „Her Space Holiday“ spielten vor vierzig Leuten.

Her Space Holiday spielten in der Astra-Stube vor vierzig Leuten

 

Der Macht-Club um Michael Weins, Alexander Posch und Hartmut Pospiech (der auch Vorsitzender des „Writers Room e.V.“ ist), sicherte sich über viele Jahre nicht nur die Zustimmung Dr. Wolfgang Schömels, dem Literaturreferenten der Kulturbehörde, sondern auch die eines großen Publikums. Eine lange Liste bekannter SchriftstellerInnen, die im Mojo-Club und später im Schauspielhaus gastierten, war die Folge. Die von mir 1992 betriebene Reihe „Intermediate I-V“ im Rialto sollte eine Ergänzung für offenere Formen der Literatur und der Musik sein, hielt aber nicht lange.

Der „Mairisch-Verlag“ von Daniel Beskos und Peter Reichenbach sowie „Minimal Trash Art“ entstanden. Junge AutorInnen und HörspielmacherInnen erhielten Chancen für Veröffentlichungen. Die Veranstaltungsreihe „Transit“ (inzwischen eingestellt), zuerst in der Schilleroper, dann im „Kulturhaus III & 70“, das „Tresengeflüster“ von Bud Rose und Bocca Rossa, die Literatur-Reihe „Poets On the Beach“ an der Elbe, das literarische „Kaffee.Satz.Lesen“ in Hamm und der 2007 von Gunter Gerlach und Lou A. Probsthayn ins Leben gerufene „Literatur-Quickie“ bieten der inzwischen stark angewachsenen Hamburger Literatur-Szene viele Auftrittsmöglichkeiten.

Das “Hinterconti” in der Marktstraße entstand Anfang 2000 und wird von einer zehnköpfigen Gruppe geführt. Viele Kreative sammeln hier erste Erfahrungen mit der Präsentation ihrer Arbeiten.

1977, schon vor der Eröffnung der „Buch Handlung Welt“, wurde das Künstlerhaus Weidenallee eröffnet, als erstes Künstlerhaus in Deutschland überhaupt. Von hier aus entstanden u.a. Kooperationen mit Städten wie Marseille, Chicago und Palermo, hier wurden Arbeiten von Peter Piller, Daniel Richter, Thomas Rieck und Sabine Mohr gezeigt, lebten Maler, Bildhauer, Fotografen, Zeichner und Konzeptkünstler unter einem Dach. 2003 wurden den Künstlern die Mietverträge gekündigt. Einige zogen nach aufwändigen Renovierungsarbeiten in das Filmemacher- und Medienkünstlernetzwerk Abbildungszentrum (ABZ) um. Es entstand das Kunstzentrum FRISE.

Autor und Aktivist Raimund Samson betätigte sich schon länger als Kulturinitiator in Wilhelmsburg. Aber erst im neuen Millennium zogen – auch wegen ständig steigender Mieten und der zunehmenden Entpolitisierung der neuen Gästeschar im Schanzenviertel – immer mehr Künstler auf die andere Seite der Elbe nach Wilhelmsburg und Harburg. Eine Folge davon ist die Neuausrichtung des 1999 gegründeten „Kunstvereins Harburger Bahnhof e.V.“ durch Tim Voss und, seit 2008, Britta Peters, die in größtmöglichen Räumlichkeiten für Kontrapunkte im Süden der Stadt sorgen.

Das “Trottoir” wurde 2002 von Mathias Deutsch und Nora Sdun als ein vom Bürgersteig aus zu besichtigendes Schaufenster gegründet. Nach dem Umzug in die Hamburger Hochstraße wurde es ein Raum für Ausstellungsähnliches. Im öffentlichen Regal befindet sich ein fluktuierender Haufen von Künstlerpublikationen sowie das Bücherlager des Textem Verlags mit wechselnden Zuständigkeiten der Beteiligten. Derzeit feudeln und organisieren dort Sebastian Reuss, Goor Zankl und Nora Sdun. Hier stellten Nina Kluth, Henrik Hold, Ingrid Scherr, Alexander Rischer und viele andere aus.

Das “Dada de Nada”, betrieben von der Künstlerin und Autorin Gabi Schaffner zusammen mit Nullachtsechzehn und Votre Voixine, fand von 2004 bis 2006  in den Räumlichkeiten der Galerie Trottoir (später in wechselnden Galerien) statt. Das erklärte Ziel der Veranstalter war “die Zusammenführung von Laien und fortgeschrittenen Laien”. Unter der Programmatik “Restkulturrecycling” fanden u.a. Lesungen (z.B. mit Hadayatullah Hübsch, Poet und Aktivist der 68er-Bewegung), Vorträge, musikalische Darbietungen und Performances statt, die den Rahmen des Gewohnten sprengten.

Textem.de um Gustav Mechlenburg entwickelte sich von der reinen Internetplattform zum Verlag, der neben Literatur und Künstlerbüchern auch das schwere Magazin „Kultur & Gespenster“ (herausgegeben u.a. von Jan-Frederik Bandel) in den Buchhandel brachte, das im deutschen Feuilleton für Aufsehen sorgte.

Im “Fleetstreet” in der Admiralitätsstraße finden Theateraufführungen, Lesungen, Clubabende, Diskussionen, Performances und Konzerte statt. Der Anspruch ist hoch, Künstler aus allen Bereichen sind im Team. Die Leitung hat die Regisseurin Angela Richter, die auch eine der Mitbegründerinnen der “Künstlergruppe Isotrop” war.

Einige der Filmemacher, Künstler und Autoren der 70er- und 80er-Jahre plus Neuzugänge aus heutigen Tagen fanden und finden sich im „Salon Roxxa“ zusammen, der nun im „Westwerk“ seine Spielstätte gefunden zu haben scheint. Auch Klaus Maeck, der 2004 mit Fatih Akin und Andreas Thiel die Filmproduktionsfirma „Corazón international“ gegründet hat,  ist Mitglied des Salons.

Rund dreißig selbstorganisierte Hamburger Ausstellungsorte und -einrichtungen realisierten im Herbst 2006 gemeinsam das Symposium “Wir sind woanders”. In einem Reader zur Veranstaltung sind Beiträge der Referentinnen und Referenten zum abschließenden Kongress dieses Symposiums zusammengetragen worden. Das Themenspektrum der Aufsätze reicht von der Auseinandersetzung mit dem Begriff der Offkunst über die Vorbildfunktion künstlerischer Praxis für gesellschaftliche Prozesse bis zu Beispielen für gelungene und misslungene Selbstorganisation.

Das Freie Sender Kombinat FSK, Tide-TV, Byte.fm im Internet sowie das Kunst-Netzwerk „The Thing Hamburg“ – hier sind zusätzlich zu den Informationen des Mainstreams und traditioneller  Berichterstattungen weitere Formen entstanden, Öffentlichkeit zu schaffen. In der vom Abriss bedrohten Kunstmeile Große Bergstraße 156/199 und der „Blinzelbar“, wo Ausstellungen, Filme und  Konzerte stattfinden, dem „Kunst- und Kulturverein Linda e.V.“ in der Hein-Hoyer-Straße, der Galerie „Hafen+Rand“, (die nun „Galerie Hafenrand“ heißt und in die Lange Reihe umgezogen ist), gibt es Räume für Ausstellungen und Veranstaltungen, die nur unter größten Mühen der Betreiber aufrecht erhalten werden können.

Vieles fehlt, bleibt unberücksichtigt. Jeden „Ort des Gegen“,  wie die Künstlerin Annette Wehrmann eines ihrer Projekte betitelt, alle Locations, Netzwerke und Initiativen aufzuzählen, wären mehrere Doktorarbeiten wert. Mit der umfangreichen Dokumentation „dagegen – dabei“ wurde ein Anfang gemacht. Denn um nicht nur die Konventionen der Kunstszenen, sondern auch die der Counter Culture zu brechen, zu unterwandern und sich über diese zu belustigen, um erneut Freiraum für Reflexionen zu schaffen und erstarrt Alteingesessenes zu hinterfragen, muss man diese erst einmal kennen. Es bleibt die Aufgabe, die niemals endende Folie von gezähmter und durch Medien inszenierter Pseudo-Realität von gemachter Geschichte zu zerreißen. Die Street Culture mit Sprayern und Skateboardern ist in andere Formen geschritten, die Comic-, DJ-, Techno- und Electroszenen konnten hier auch keine Berücksichtigung finden.

Nichts ist beendet und die Historie nicht nur Ballast, obwohl sie schwer wiegt. Und der Geist der anarchischen Ansprache existiert auch im Ton der Mails, die Tino Hanekamp vom Bunkerclub „Übel & Gefährlich“ an der Feldstraße in die Welt hinaus posaunt – steckt in ihnen der aufklärerische Geist Heinrich Heines? Dieses und noch viel mehr: Den Glam aus den Haaren bürstend, gilt es, der Gegenwart Raum und Platz zu verschaffen. Denn dort, wo die innere Leiche umarmt wird, ist Leben.

 

www.doerrie-priess.de/nordhausen/details/nordhausen_archiv.htm