27. September 2008

Farbige Fliehkraft

Echo, 2008, Acryl auf Leinwand, 300 x 420 cm
Emerald Dream, 2008, Acryl auf Leinwand, 100 x 80 cm
Midnite Run, 2008, Acryl auf Leinwand, 180 x 240 cm
Palmer, 2008, Acryl auf Nessel, 41 x 34 cm
Shadows (Studie), 2008, Acryl auf Masonit, 36 x 28 cm
Time (Studie), 2008, Acryl auf Masonit, 36 x 28 cm

 

Rechteckige Farbflächen, mal lockerer, mal kompakter gestaffelt; kräftige, meist ungebrochene Primär- und Mischtöne, die sich zu vielfältigen Kontrasten und hoher Binnenspannung aufbauen. Bildelemente sind durchweg an vertikal und horizontal verlaufenden Achsen ausgerichtet, doch sie folgen dabei keinem streng formalen Raster, grenzen beispielsweise nicht immer bündig aneinander, sondern bilden neben- und übereinander geschichtete Pattern aus. Richard Schur knüpft erkennbar bei Formsprachen ungegenständlicher Malerei an, doch er sagt auch: „Der Kern meiner Arbeit ist nicht ihre Formsprache, sondern das, was ich in ihr ausdrücke. Es geht um mehr als um neue Sounds, es geht um neue Songs!“(1) Sein Umgang mit der Farbe ist dabei tatsächlich eher musikalisch, also experimentell und synthetisch statt analytisch-rational. „Ich male sehr intuitiv, fast nie kalkulierend“, so Schur, und „ich korrigiere nie, sondern reagiere mit neuen Entscheidungen.“(2) So entstehen Bilder, die als farbiger Gesamtraum eher das Sowohl-als-auch behaupten, als dass sie zum harmonisch abgedämpften Ausgleich streben. Bilder, die Schur zu einem starken Gesamtklang verfugt und deren kräftiges Kolorit nicht leise ist, doch auch nicht eigentlich dissonant ausfällt. Schur verbindet in seiner formal reduzierten, an Hardedge, Colourfield und Konkreter Kunst geschärften Malerei die Strenge mit farbiger Fülle und Intensität zu komplexer Klarheit. Er wagt darin das ausgewogene Zuviel, entfacht anhand einfacher Formentscheidungen visuell dichte Verflechtungen und farbige Fliehkräfte, die Betrachter immer wieder aufs neue dazu verführen, zwischen Gesamt- und Teileindruck zu springen. Auf eine solche Dynamik der Sehbewegung hat Schur die Malerei kompositorisch angelegt, und insofern funktionieren seine Bilder stets intuitiv und diskursiv zugleich: Man ist versucht, das Bild als geschlossenes Feld zu sehen, während der Blick die Binnenstrukturen permanent neu hierarchisiert, unterschiedliche Dimensionen des Farbraums öffnet – und aufs Ganze weiter offen hält. Aus diesem „Springen“ geht der Gesamteindruck hervor. Und der Prozess ist nicht nur aufs einzelne und in sich abgeschlossene Bild hin unabschließbar, er gestaltet sich auch von Betrachter zu Betrachter unterschiedlich und bleibt dabei wortwörtlich und im besten Sinn ein Provisorium. In seiner Malerei verfolgt Schur eine Konzeption des offenen Bildes, in dem sich Fläche und Farbe zu fluktuierenden, im Sehprozess verschiebenden Vorstellungen abstrakten Raums verschränken.

 

Besonders eindrucksvoll funktioniert das bei großformatigen Arbeiten wie etwa Superoverdrive (2005), Anywhere Else (2006) oder dem neueren Echo (2008), wenn dort Farbe über weit gestreckte Ausdehnung und differenzierte Flächenorganisation hin orchestriert ist. Dann zeigt sich besonders klar, wie Schur eine raffiniert ausbalancierte Unübersichtlichkeit in Komplexität bindet und die Malerei in gleichem Maß an sekundäre Kompositionsleistungen der Betrachter überantwortet. Auch das ist eher intuitiv als analytisch angelegt, und dazu passt, dass er seinen Ansatz selbst häufig in Begriffen von Musikalität beschreibt: „Ich würde mich eher mit einem Musiker vergleichen“, bemerkte Schur in einem Interview, „oder besser: mit einem Komponisten. Denn letztlich ist es der Betrachter, der die Musik macht, der mit den Augen ‚hört‘, der empfindet. Gegenstandslose Malerei ist dem Sinnlichen, dem Unmittelbaren der Musik näher als dem Erzählerischen.“(3)

 

Schurs Abstraktion ist konsequent tektonisch strukturiert – ähnlich wie eine musikalische Komposition. Seine farbkräftige Form der Reduktion ist strikt ungegenständlich und neigt in gleicher Konsequenz zur Synästhesie. So wie etwa Kandinsky oder Scriabin Farbe quasi alphabetisierten und dabei sowohl räumlich als auch musikalisch deuteten – Gelb mit der Form des Dreiecks und einem hohem Klavierton, helles Blau dagegen mit der Kreisform und räumlich mittlerer Tiefe usw. identifizierten –, öffnet ein strikt ungegenständlicher Gebrauch der künstlerischen Mittel neue, erweiterte Möglichkeiten fürs ästhetische Wahrnehmen und Empfinden. Zwar ist ein Bild, anders als Musik, synchron gefasst: Alles ist darin zugleich da. Doch auch in Wegen der Blickführung verbirgt sich eine Art von Melodie, so dass das Sehen Aufführungscharakter erhält. Man könnte Schur in diesem Sinne aber auch als Farbarchitekten beschreiben, wie man es ähnlich etwa über Otto Freundlich oder später Imi Knoebel sagen könnte – ein visueller Baukünstler, der Farbe in Begegnungsflächen bündelt, begrenzt und organisiert, und der daraus eine abstrakte, antinarrative Poesie gewinnt. Tatsächlich findet bei Schur das Bildgeschehen an den Rändern, den Übergängen statt: An Grenzlinien konfrontiert er verschiedengewichtige Farbenergien, lässt sie aufeinander zugreifen, mal sich einander vermindern, mal intensivieren, immer aber wechselseitig temperieren.

 

Dadurch, dass Schur seine Malerei über Präsenz der Farbe einerseits, Negativität der Grenze andererseits strukturiert, stellt sich auch visuelle Korrespondenz zwischen imaginärem Bild- und realem Umgebungsraum her. Er orientiert seine Bilder am Grundprinzip des malerischen Raumes in der Fläche, und er kann dies in verlängerter Logik eben auch aufs Außerhalb des Bildes übertragen. Mit derartigen Verhältnissen zwischen Bild- und Realraum hat er in installativen Wandarbeiten wie Havanna (2002) oder Colourfield (2004) ausdrücklich experimentiert. Und knüpft daran auf andere Weise auch in Echo (2008) an: Einerseits handelt es sich hier um autonome Malerei, doch andererseits ist das Tafelbild durch Wahl des Formats und die Hängung auch so auf seinen Ort, den Kunstverein Ravensburg, bezogen, dass sich darin die unterschiedlichen, einander überlagernden, auch widersprechenden Auffassungen von Raum in kalkulierter Ambivalenz verbinden. Schur hat das gut vier mal drei Meter große Format in die Schmalseite des länglichen Ausstellungsraums eingefügt und vor einer Fensterfront an dünnen Stahldrähten so aufgehängt, dass zu allen Seiten ein Abstand von etwa 25 Zentimetern verbleibt. „Das Bildformat ist an die Architektur angepasst“, sagt Schur, „es schließt den Raum nicht völlig ab wie eine Wand, spielt aber mit dem Wandcharakter.“(4) Doch lässt er diese raumspezifische Hängung auch umgekehrt unmittelbar in die Wirkung eingehen: „Auf dem Bild habe ich große Flächen der Leinwand unbemalt belassen, was zusätzlich Offenheit schafft, die raumerweiternde Wirkung des Bildes verstärkt und anstelle des Fensterausblickes zu einer gewissen Doppelbödigkeit führt.“(5)

 

Die installationsartige Platzierung des Hauptwerkes dieser Ausstellung, die sich auch als Kommentar zum Verhältnis von Tafel- und Altarbild lesen ließe, wird auf der Längswand durch eine fein abgestimmte Auswahl klein- und mittelformatiger Arbeiten flankiert. Formal gesehen handelt es sich dabei um klassische Tafelbilder, kompositorisch im Sinne eines oben beschriebenen Typus des „offenen Bildes“ angelegt. Doch gegenüber älteren Arbeiten Schurs fällt bei der aktuellen Malerei auf, dass Felder häufiger, oft auch überwiegend in matten Schwarz- und warmen Hellgrautönen (die bei skizzenhaften Kleinformaten rohe Leinwand simulieren) gemalt sind. Wie etwa in Midnite Run (2008): Hier scheinen schwere und leichte Nichtfarben das eher dezente Kolorit im Zaum zu halten, an vielen Stellen blitzt Farbigkeit nur noch als schmaler, dadurch vielleicht desto leuchtkräftigerer Streifen auf. Im dezentral und vergleichsweise dicht gestaffelten Bildaufbau sind bloß auf mittlerer Höhe ein paar Farbfelder halbwegs unverstellt zu sehen – Blaugrau, Orangeocker, etwas weiter oben blasses Rosa –, die übrigen Töne sind wie im Durchblick durchs vorherrschende Gefüge grauschwarzer Blöcke vorgeführt. Und auch wenn Farbe hier nicht eigentlich gehoben, sondern gebunden und sogar zurückgedrängt erscheint: Das Bild wirkt nicht eigentlich schwer, denn durch die Art der Komposition scheint es eigenen Atem zu haben und eine eigene Form von Musikalität. Tatsächlich setzt Schur solche visuellen Ruhezonen neuerdings verstärkt und dabei sehr bewusst ein: „In letzter Zeit habe ich mich intensiv damit beschäftigt, den Malgrund durch sparsame, präzise Farbsetzungen zu aktivieren und den offenen Charakter der rohen Leinwand als Gestaltungsmittel zu nutzen,“ sagt er und vergleicht auch die mattschwarzen Flächen etwa mit Pigmentarbeiten Anish Kapoors. Innerhalb der Bilder fungieren sie als „Breathing Spaces“,(6) so Schur, dienen zur Errichtung verfeinerter Balancen, konfrontieren Farbe mit schweigendem Kolorit und schaffen so ein komplexeres Gefüge im Verhältnis von Bildoberfläche zu malerisch suggeriertem Raum. Das gilt entsprechend für das kleinformatige Shadows (2008), in dem schwarze Flächen von ähnlicher, im Detail aber doch variierender Form und Ausdehnung den größten Teil des Bildes überziehen, jedes dabei mit einer Seite zum Bildrand hin abschließend. Nur knapp geben diese Felder eine Durchsicht auf darunterliegende Zonen frei, die in meist blassen, teils auch kräftig ausgeführten Orange-, Gelb- und Blautönen gehalten sind. Mit minimalem Gestus bricht Schur eine sich einstellende Ordnung wieder auf: In der Ecke links unten ragt ein weißlich grünes Feld übers Schwarz hinaus und zieht damit wie beiläufig eine weitere Ebene ins Bildgefüge ein.

 

Insbesondere in Schurs kleinen Formaten wird erkennbar, wie wichtig das Verhältnis von Farbe und Materialität für seine Malerei eigentlich ist. Zwar sind diese Bilder klar organisiert, doch binden sie ausdrücklich auch eine Reihe von „Unsauberkeiten“ ein – etwa durch die per Hand gemalten, manchmal etwas schiefen Ränder, durch erkennbare Pinselriefen oder leicht verwischte Kanten: In Untitled (2006) oder Palermo (2005) etwa wird das besonders augenfällig: Ein derart ins Lässige heruntergekochtes Hardedge präsentiert Farbe stärker von Seiten ihrer Stofflichkeit. Das ist Schur nur zu bewusst: „Material gehört zum Wesen des Mediums“, sagt er und beschreibt im Folgenden treffend das Zusammenspiel von Raum und Oberfläche in der Malerei: „Die Spannung zwischen Image und Bildoberfläche ist sicher Hauptsache. Wer meine Bilder genau anschaut, sieht Raum. Aber dessen räumliche Struktur lässt sich nie so ganz fassen. Stattdessen taucht man immer tiefer ein. Gleichzeitig beamt einen das Auge plötzlich wieder zurück an die Oberfläche, man bleibt an einem Farbspritzer oder sonstwo an der Oberfläche, am Material hängen.“(7) Imagination und Sehen – bei diesen Bildern geht es stets in beide Richtungen zugleich. Das Synthetisieren malerischen Raums bleibt dabei jederzeit gekoppelt an Vorläufigkeit, Enttarnung, Provisorium. Schur bindet solche Widersprüche, wie sie in dieser Unmittelbarkeit und Dichte wohl nur durch Malerei zu formulieren sind.

 

Jens Asthoff

 

 

Ausstellung:

Richard Schur, Echoes

Kunstverein Ravensburg

26.9 - 26.10.2008

www.kunstverein-rv.de

 

www.richard-schur.de

 

(1) Richard Schur, Ohne Motorhaube – Ein Gespräch mit Klaus Ebbers, März 2007, in: Richard Schur [Kat.], München, 2007; S. 11.

(2) ebd., S. 12.

(3) ebd., S. 11.

(4) Schur am 2.7. 2008 in einer E-Mail an den Autor.

(5) Schur am 20.8. 2008 in einer E-Mail an den Autor.

(6) ebd.

(7) Richard Schur, Ohne Motorhaube…, a.a.O., S. 12.