23. September 2008

Mutters kleine Helfer

 

In Söhnke Wortmanns Fußball-Schmonzette „Das Wunder von Bern“ spielt das Gerücht keine Rolle. Natürlich nicht. Obwohl bereits vor über 50 Jahren im Ausland geraunt worden war, die deutsche Nationalmannschaft wäre für ihren überraschenden 3:2-Sieg bei der Fußball-WM 1954 gegen Ungarn zuvor mit Speed gefixt worden, wird der Verdacht erst im Jahr 2004 in einer Fernsehreportage erneut Thema.

 

Der Hamburger Autor, Künstler und Kurator Hans-Christian Dany nimmt in seinem Buch „Speed. Eine Gesellschaft auf Droge“ den Faden auf und erzählt von den engen Kontakten des Ex-Reichstrainers und NSDAP-Mitglieds Sepp Herberger zur Luftwaffe. Im Dritten Reich wurde Amphetamin als Stimulans für Soldaten benutzt. Dany schreibt: „Warum soll der ehrgeizige Asket, der im knöchellangen Ledermantel wie ein flügellahmer Bussard aussah, nicht auf die naheliegende Idee gekommen sein, ein biomilitärisches Verfahren auf Fußball zu übertragen. Eine Möglichkeit, die juristisch zu diesem Zeitpunkt noch kein Problem darstellte.“ Ja, warum eigentlich nicht? Was machbar ist, geschieht meist auch.

 

Dem Autor geht es nicht wirklich um eine nachträgliche Demontage des Fußball-Märchens, zumal sich der Verdacht bis heute nicht hat beweisen lassen. Indessen fügt sich die WM-Anekdote bestens in den Gesamtrahmen seiner Drogen-Kulturgeschichte, die auch deutliche literarische Züge trägt. Was sie sehr viel spannender und sicher auch um einiges lesbarer macht als manch trockenes Sachbuch: „Tiefer durchatmen, gezielter denken, schöner geformt sein, schärfer schießen und schneller arbeiten – das sind Wünsche, die mit dem Stoff in Erfüllung gehen sollen.”

 

Der „Stoff“ kennt zahlreiche Abwandlungen und trägt viele Namen: Chrystel Meth, Pep, Yaba, Speed und ein paar weitere. Man mag die eine oder andere Bezeichnung aus dem beschleunigten Club-Nachtleben der Gegenwart mit seinen selbstentgrenzenden Tendenzen kennen. Dort passt der Stoff bestens hin, vervielfacht er doch die Energien bzw. mobilisiert sämtliche Kraftreserven des Körpers, indem er ihn biochemisch betrachtet in höchste Alarmbereitschaft versetzt. Bei entsprechend hoher Dosierung gerät der User in Euphorie, mitunter in Ekstase. Erheblich billiger als Kokain ist Speed auch – kein Wunder, dass es so beliebt ist, zumal bei Menschen mit wenig Geld. Weshalb Speed in den USA bis heute als ausgesprochene White-Trash-Droge gilt. Die Nebenwirkungen verschweigt Dany nicht: Schädigung von Leber und Nieren, Schlaflosigkeit, harte Depressionen, Angst- und Wahnvorstellungen, psychische Abhängigkeit und so fort.

 

Jede Droge hat ihre Zeit oder umgekehrt. Und Amphetamin, das ist einer der Hauptgedanken Danys, ist diejenige Substanz, die sich am besten in den Erwartungsrahmen solcher Gesellschaften fügt, in denen hoher Leistungsdruck und hohe Leistungsbereitschaft, nicht zuletzt des technologischen Fortschritts wegen, direkt verkoppelt sind mit immer höheren Geschwindigkeiten der Produktionssphäre und des Lebens an sich. Amphetamin ist in anderen Worten die Substanz des 20. Jahrhunderts; seine Karriere hat viel mit der Industrialisierung und der immer stärkeren Kapitalisierung der Welt zu tun. Deshalb wird Amphetamin in diesem Buch, für das Dany acht Jahre recherchiert hat, als zentrale Metapher der letzten hundert Jahre gehandelt.

Kaum noch übertrieben scheint diese Behauptung, wenn man den Autor erst begleitet hat auf seiner lebendigen, durch kurze Hauptsätze tempostark in Szene gesetzten, jedoch immer auf Distanz zum Gegenstand bleibenden Spurensuche. Bereits 1887 vom rumänischen Chemiker Lazar Edeleanu an der Universität in Berlin synthetisiert, vermarkten seit den 30er Jahren amerikanische Pharmafirmen Amphetamin unter dem Namen Benzedrine zunächst als Asthmamittel, wenig später verkauft man es als aufputschendes Medikament gegen Narkolepsie und leichte Depressionen.

 

Zweckentfremdungen für den privaten Gebrauch bleiben nicht aus.

Im Zweiten Weltkrieg von Deutschland und Japan massenweise bei Kampfhandlungen eingesetzt gelangt Amphetamin nach dem Krieg über abhängige Veteranen verstärkt in die Zivilgesellschaft. Ferner entdeckt man seine Appetit hemmenden Wirkungen; und amerikanische Geheimdienste sind versucht, es als Wahrheitsdroge zu instrumentalisieren, allerdings erfolglos: Mehr als „selbstbezügliche Wortknäuel“ kommen nicht aus den Mündern der unfreiwilligen Versuchspersonen. Seit den späten 80ern kicken Amphetamine – unter anderem auch der enge Verwandte Ecstasy – die Tänzer in den Clubs, und Kinder mit Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADS/ADHS) bekommen den amphetaminähnlichen Stoff Ritalin verabreicht, um sich besser konzentrieren zu können. Ob in seinen illegalen Varianten oder den legalen – überall, wo man hinschaut, taucht es auf und immer scheint es vor allem um eines zu gehen: um Leistungssteigerung. Was Dany nicht besonders schmeckt, auch wenn er sich mit Werturteilen weitgehend zurückhält. Dafür fabriziert er Bilder subtilen Humors, die ihrerseits eine deutliche Sprache sprechen: Speed sorgt noch bei der Verrichtung der stupidesten Tätigkeit für den allergrößten Lustgewinn. So bewerben findige amerikanische Pharmafirmen in den 70ern „die Frischmacher“ als „Mutters kleine Helfer“, weil sie, so Dany, „die Menschen bevorzugt in vor Glück strahlende Putzteufel verwandelt“.

 

Etwas zu viel Raum im Buch beansprucht der Einfluss von Speed auf die grellbunte Riege der Künstler, Musiker und Schauspieler, auf, um nur ein paar zu nennen, die mehr oder minder tragischen oder bewegten Biografien von Judy Garland, Philip K. Dick, Jean Paul Sartre, Andy Warhol, Elvis Presley, Johnny Cash oder Johnny Rotten. Unstete, unter hohem Leistungsdruck stehende kreative Geister, na klar, denen Speed bei der Verrichtung ihrer Arbeit nicht selten enorm half, auch wenn sie dafür teilweise einen hohen gesundheitlichen Preis auszurichten hatten. Dany gerät, wenn er von ihren Leben erzählt, mitunter ein bisschen ins Schwafeln, verliert sein Thema manchmal aus den Augen, in diesem sonst so klar fokussierten Buch. Andererseits ist er selbst auch Künstler. Und sie schillern ja auch so schön, die popkulturellen Geschichten.

 

Am Ende bringt der Autor sein eigenes ambivalentes Verhältnis zu Drogen in einem lakonisch kritischen Resümee auf den Punkt. Er schreibt: „In dieser abhängigen und auf Abhängigkeiten gebauten Gesellschaft gibt es, allen faszinierenden Möglichkeiten von Drogen zum Trotz, gute Gründe, nüchtern zu bleiben.“ Dass das kaum jemand durchhält, steht auf einem anderen Blatt.

 

Michael Saager

 

 

Zuerst erschienen auf www.fluter.de

 

 

Hans-Christian Dany: Speed. Eine Gesellschaft auf Droge, Nautilus, Hamburg 2008, 183 Seiten, 16 Euro

 

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