12. September 2008

« antisur »

 

Zu erfahren, wie etwas wirklich gemeint gewesen war, gehört zu den mal erstaunlichen, mal erheiternden Dingen des Lebens. Denn oft lässt sich mit dem Schlüssel, den man – aufgeklärt – in der Hand hält, nicht mehr sonderlich viel anfangen. Auch wenn der Schlüssel passt, so ist das Gebäude oder der Raum nur noch als entfernter Zeitraum zugänglich. Die Verbindungslinien sind gekappt, notdürftig ausgebessert oder völlig erneuert. Auf jeden Fall liegt der Weg der Linien normalerweise nicht klar vor Augen. Und wenn man sie vorgeführt bekommt, stellt man als erstes fest, wie viel Zeit vergangen ist.

 

Solche Verbindungslinien und Knotenpunkte dazwischen zu rekonstruieren ist das Anliegen Georges Roques mit diesem Buch über abstrakte Kunst und die Missverständnisse, die sich mit diesem Begriff mit der Zeit eingestellt haben. Der Autor stellt weniger die unter dem Etikett „abstrakt“ laufenden Werke vor, als dass er ausführlich den Bedeutungen nachgeht, die „abstrakt“ in der Zeit von 1860-1960 gehabt hat. Roque liest also die Texte der Künstler, die – seien sie „impressionistisch“, episodisch oder auch systematisch – zunächst einmal Selbstverständigungsversuche darstellen, und zwar in ihrem jeweiligen Kontext.

 

Warum macht sich Roque diese Mühe? Es sind vor allem zwei Dinge, die Roque klarstellen möchte. Zum einen führt er einleuchtend vor, dass die sogenannte abstrakte Kunst nicht einfach vom Himmel gefallen ist. Sie hat eine (Vor-)Geschichte, die einen auf das ein wenig Vertrackte des Wortes abstrakt selber aufmerken lässt. Denn am Anfang, den der Autor mit Malern wie Gauguin und Van Gogh ansetzt, hieß abstrakt für die Künstler etwas völlig anderes als heute oder auch etwa 1920. Abstrakt malen bedeutete unter anderem für die genannten Maler aus dem Kopf malen, also ohne ein Modell vor Augen zu haben. Zugleich verbanden die beiden damit das Attribut schwierig oder kompliziert. Daraus ergibt sich also, dass um 1870/80 „abstrakt“ mit Epitheta wie „nicht-gegenständlich“ oder „nicht-figurativ“ keineswegs verbunden wurde. Umgekehrt wurden etwa die Kubisten lange Zeit als „abstrakt“ verdächtigt, weil man ihnen zu große Entfernungen von der Abbildung der „Natur“ vorwarf. Und so ist verständlich, dass sich manche Künstler, die wir heute als abstrakt bezeichnen, im Tagesclinch ihrer Zeit als „konkrete“ Künstler bezeichneten, um nicht mit bestimmten Tendenzen (gewissermaßen das schlechte „Abstrakte“) verwechselt zu werden.

 

Einen guten Teil seiner historischen Entwicklung verwendet Roque darauf, auf zwei mögliche Verwendungsweisen von „abstrakt“ aufmerksam zu machen, nämlich auf der einen Seite abstrahieren im Sinne von absehen von (bestimmten Aspekten) bei Beibehaltung einer gewissen Struktur, die im abstrakten Bild nach wie durchscheint und auf das verweist, wovon abstrahiert wurde. Und auf der anderen Seite abstrakt im Sinne von völliger Loslösung jeden Gegenstandsbezugs. Die Frage stellt sich natürlich sofort, wie man (der Betrachter) mit einer solchen pikturalen Amputation umgeht.

 

Diesem Aspekt abstrakter Kunst geht Roque in einem zweiten Teil nach und das ist auch zugleich das zweite Anliegen des Buchs: Ist es möglich, abstrakte Kunst als Sprache aufzufassen, lassen sich möglicherweise die Elemente des Abstrakten als Zeichen deuten, die auch ohne den fallengelassenen Bezug auf eine äußerliche Wirklichkeit („Natur“ im weitesten Sinn) zum Sprechen gebracht werden können? Es gab einmal eine Zeit, als man die Linguistik als Königsdisziplin auf dem Weg zu einer universalen Zeichentheorie verstand. Zeichen waren dual in Signifikanten und Signifikate aufgeteilt und aus ihnen zusammengesetzt, und was nicht in diese strukturalistische Vorgabe passte, war eben kein Zeichen. Dieses Zeichenverständnis übernimmt Roque nicht. Es ist ihm zu unhistorisch. Er zieht es vor, Künstlern wie Kandinsky bei ihrem Versuch zu folgen, ein eigenes, und sei es idiosynkratisches Verständnis ihrer eben auch semantischen Bilderproduktion zu erlangen. Während Kritiker wie Claude Lévi-Strauss Bildbedeutungen an wie auch immer große oder kleine Residuale von „Natur“ im Bild abhängig machen, macht sich Roque daran, so etwas wie Elementarlehren des abstrakten Bildmaterials zu rekonstruieren, anhand dessen sich eben auch Bedeutungen genieren lassen.

 

Das ist auf der einen Seite spannend, auf der anderen aber auch eher enttäuschend, denn solche Elementarteilchen sind es eigentlich immer nur im jeweiligen Maluniversum eines jeweiligen Künstlers. Das heißt also, dass sich der Betrachter immer neu auf solche „Sprachen“ einzustellen hat, und das heißt vor allem, erst einmal die Texte der Künstler zu lesen, wie etwas gemeint war (Farb- und Liniensymbolik). Solche nun nicht mehr dualen Zeichen nennt Roque „plastische“ Zeichen. Diese Zeichen müssen aber erst einmal zum Sprechen gebracht werden. Ihren Sinn sieht man ihnen erst einmal nicht an. In dem Moment, wo dann doch noch die inneren Landschaften des Künstlers ausgedrückt sein sollen, ist dann wohl für viele Rezipienten der Zug des Verstehenwollens endgültig abgefahren. Aber vielleicht bringt die Kalamität der so verstandenen abstrakten Kunst nur auf den Punkt, was man als das Problem des Anhangs bezeichnen könnte und mit dem mehr oder weniger jede Spielart von Kunst zu tun hat: Ab wann ist etwas verständlich, oder auch: Wie viel Zeichen verträgt ein Bild?

 

Dieter Wenk (09-08)

 

Georges Roque, Qu’est-ce que l’art abstrait?, Paris 2003, Gallimard

 

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