5. September 2008

Früher Terminator

 

Was wäre der moderne Schriftsteller oder zumindest eine bestimmte Spielart dieser Gattung ohne die Gesellschaft, über die man sich so hervorragend aufregen kann. In Frankreich etwa Baudelaire, Bloy, Céline, einer lauter krakeelend als der andere. Jeder mit seinem eigenen verbalen Schießstand, aber natürlich gibt es Gemeinsamkeiten. Flaubert, noch so einer, legte zum Beispiel ein „Lexikon der Gemeinplätze“ an. Bloy legte selbige aus, Céline legte sie schließlich ad acta, denn mit seinem berühmten „style“ glaubte er nichts Geringeres als die bisherige Literatur unmöglich gemacht zu haben. Selbstbewusstsein ist in diesen Zusammenhängen ein eher schwaches Wort. Noch konnten die Künstler und Schriftsteller als Priester auftreten. Lange vor Sartre waren die Hölle immer die anderen.

 

Aragons 1928 erschienene „Abhandlung über den Stil“ ist alles andere als eine akademische Pflichtübung. Sie ist auch keine „Übung“ im Queneau’schen Sinn. „Traité du style“ ist eine surrealistische Intervention als Generalabrechnung mit der französischen Gesellschaft einschließlich ihrer lahmarschigen und gekünstelten Literatur, für die etwa Namen wie Gide und Valéry stehen, die sich beide als Angegriffene heftig gegen die Publikation gewehrt haben, allerdings vergeblich. Als Pamphlet ist es in weiten Teilen nur in einer kommentierten Ausgabe verständlich, als surrealistischer Text beinah nur noch als historisches Dokument genießbar. Die Seiten jedoch zum „lieu commun“, zum Gemeinplatz also, lohnen auch heute noch gelesen zu werden. Denn man entkommt ihm nicht, auch wenn man sich gegen ihn wendet. Die surrealistische Behandlung des Themas gehört natürlich selber zu der Problematik, die als prinzipiell überwindbar angesehen wird.

 

Fatal für die Surrealisten allerdings, dass es bereits den Comte de Lautréamont, alias Isidore Ducasse, gegeben hat, DEN Surrealisten avant la lettre, der im Grunde schon das ganze literarische Pulver verschossen hatte, nur hat es damals eben keiner gemerkt und die Surrealisten konnten stolz darauf sein, Lautréamont eigentlich erst geschaffen zu haben, indem sie ihn (für sich) entdeckten. Wenn „Kraft“ und Neuheit“ die wahren literarischen Kriterien sind, dann ist die surrealistische Strömung – im Vergleich mit Lautréamont zweitgereiht – bereits hoffnungslos veraltet. Das fällt einem natürlich erst ein, wenn man bereits seinen Spaß mit Aragon und seiner Zerlegung gewisser zeittypischer Gemeinplätze gehabt hat. Dass eingängige Slogans und intelligent wirkende Sprüche oftmals ganze Theorien ersetzen, wann gälte das mehr als heute? Ob surrealistischer Slogan oder nicht, Aragon versteht unter „style“ „den Akzent, den anlässlich einer gegebenen Person die von ihr angeeignete Flut des symbolischen Ozeans nimmt, die umfassend die Erde durch die Metapher unterminiert.“ In dieser Defintion steckt nicht nur eine Verbeugung vor Lautréamont und dessen „altem Ozean“, Aragons Stil ist letztlich der Stil Lautréamonts, oder will es sein. Man kommt, so scheint es, aus den Gemeinplätzen nicht heraus. Aber es lohnt, intelligent in sie hineinzukommen. Und intelligent war Aragon, bis ihn ein neuer lieu commun aufgefressen hat, der böse Stalinismus, der aber noch ein bisschen mehr war als ein bloßer blöder Platz.

 

Dieter Wenk (08/08)

 

Louis Aragon, Traité du style, Paris 1928 (Gallimard); Aragon, Abhandlung über den Stil, Berlin 1987, Edition Tiamat