19. August 2008

Generation, Boheme, Elite

 

Die im Titel als Eyecatcher verwendeten Begriffe gehören seit geraumer Zeit zum verbalen Kleingeld, mit dem tagein, tagaus in Medien, Politik und Wissenschaft geklimpert wird. Diese Begriffe sind inzwischen dermaßen allgegenwärtig, dass in den seltensten Fällen nachgefragt wird, was damit überhaupt gemeint ist und welche Konzepte und Interessen sich hinter der abgegriffenen Münze verbirgt. Den meisten Interviewten kommt solch eine mehr konsumierende als reflektierende Haltung gewiss entgegen, während die meisten Politiker, Lobbyisten, Journalisten und wohl auch viele fachfremde Wissenschaftler ratlos wären, wenn sie definieren müssten, wovon sie denn genau sprechen. Dafür gibt es ja die Experten – wohlgelittene Akademiker an hochrangigen Instituten oder in Stiftungen, die sich unabhängig, parteiübergreifend neutral, wissenschaftlich sachlich und ideologisch pragmatisch geben. Sobald diese Experten häufig genug an die Öffentlichkeit getreten sind, können sie zu einer festen Größe in den Medien werden, quasi zu einem Markenprodukt in eigener Sache. Komplexe, differenzierte und kritische Theorien lassen sich allerdings nur unter Zugeständnissen zu simplen, griffigen und einprägsamen Slogans verknappen.

 

Diese Struktur des gegenwärtigen Diskurses dürfte dafür verantwortlich sein, dass der Wirtschaftswissenschaftler Richard Florida („Die kreative Klasse“) und der Soziologie Richard Sennett („Der flexible Mensch“) mit ihren Werken und Parolen inzwischen sogar auf Cocktail-Partys, Empfängen, Vernissagen und politischen Talkshows vom „Christiansen“-Format Einzug gehalten haben. Das liegt einerseits daran, dass sich Florida und Sennett hervorragend zu inszenieren wissen, andererseits bestätigen sie die Oberen Zehntausend in ihrem Selbstverständnis als kreativ und fortschrittlich. Wesentlich unbequemer geht da eine französische Soziologin vor, die im deutschsprachigen Raum wohl nur in Fachkreisen bekannt sein dürfte: Nathalie Heinich.

 

Verglichen mit ihren amerikanischen Kollegen dürfte ihre Kompetenz als leitende Wissenschaftlerin am französischen Elite-Institut CNRS ungeschlagen sein, denn seit 1989 veröffentlicht sie kunsthistorische und feministische Schriften, die sich mit dem Status von Kreativen und Künstlern auseinandersetzen. Der vorliegende Band, in dessen Einleitung sie sich demütig entschuldigt, allzu häufig auf frühere eigene Studien verweisen zu müssen, bildet dabei die Krönung einer fast 20-jährigen Forschungsarbeit. Entsprechend knapp fasst sie sich und vermeidet vorbildlich die soziologische Terminologie, weshalb sich ihre Abhandlung über Künstlertum und Demokratie sowohl als fachwissenschaftliche Einführung in die Kunstsoziologie lesen lässt als auch als Lektüre für das interessierte Publikum jenseits der Universitäten.

 

In ihrem Essay geht es ihr um den Status, der sich in demokratischen Gesellschaften mit der künstlerischen Betätigung verknüpft, also darum, wie sich weite Teile der Bevölkerung das Leben eines Künstlers vorstellen: dessen Schwierigkeiten und Privilegien, die Forderungen des Publikums, die eigene Inszenierung des Lebenslaufs und die Traditionen der Künste. Dabei setzt sie Ende des 18. Jahrhunderts bei den Anfängen der Französischen Revolutionen an, als die Hofkunst und deren „gatekeeper“ [sic!] in Misskredit gerieten, und verfolgt die historischen Veränderungen dieses Prozesses bis in die Gegenwart hinein. Dabei beschränkt sie sich nicht auf eine statistikgesättigte Soziografie, sondern verfolgt vielmehr jene Ideen, durch die sich künstlerisch tätige Personen auszeichnen: Kreativität, Armut, Freiheit, Randständigkeit, um die geläufigsten zu nennen. Deshalb betrachtet sie literarische Werke über fiktive Künstler ebenso als Primärliteratur wie reale Manifeste und sich wissenschaftlich gebende Werke, die mehr als Setzungen denn als Analysen fungieren. Was ihr dabei beiläufig gelingt, ist eine dezidierte Betrachtung der Schlagworte Generation, Boheme, Elite.

 

Fast unvermeidlich beginnt sie ihren Essay mit Honoré de Balzacs Klassiker „Das unbekannte Meisterwerk“ (verfilmt als „Die schöne Querulantin“) und zeigt die Darstellung des Bildenden Künstlers als genialisch begabten Mann, der sich auf einen Meister beruft und seinerseits durch seine Schüler weiterwirkt, während sich die weiblichen Rollen auf die der inspirierenden Muse und der fürsorglich unterstützenden Lebensgefährtin bzw. Ehefrau beschränken. Dieser feminine Habitus des männlichen Künstlers erweist sich denn auch als Hemmschuh für die Anerkennung weiblicher Kreativität: Häufig werden Künstlerinnen allein wegen ihres Berufs vermännlicht, Meriten bleiben aus oder lassen sich nur über etablierte Ehemänner oder Brüder erlangen, und ihre Werke gelten eher als ornamental denn als innovativ.

 

Brennpunkt des Konflikts zwischen künstlerischer Einzigartigkeit und demokratischer Gleichheit wird in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts der Begriff der Boheme. Diese Künstlergruppen, meist zugleich Wohngemeinschaften, sind aus der Not entstandene Bündnisse von jungen Gleichaltrigen, die sich eine goldene Zukunft durch ihr künstlerisches Wirken versprechen, aber wegen mangelnder Einkünfte zu Beginn ihrer Karriere auf gegenseitige Unterstützung angewiesen sind. Diese heterogenen Netzwerke werden allerdings nur denkbar und lebbar, weil der Zusammenbruch der feudal-ständischen Ordnung mit tiefen Traumata verbunden war, die hastig durch ein anderes Konzept ersetzt werden musste - das der Generation: Ähnliche Erfahrungen derselben Altersgruppe substituieren ab 1800 die Hierarchie des Standes – weit vor Douglas Coupland („Generation X“) und Florian Illies („Generation Golf“).

 

Heinich verweist dabei auf die unterschiedlichen Traditionen der einzelnen Künste, wobei sich zunächst die freien Künste (Artes liberales) und das Kunsthandwerk bzw. die Gebrauchskunst (Artes mechanices) gegenüberstanden. Symbolisch wird dieser Konflikt zwischen den Malern als Erben der Hofkunst und den Literaten als Verwandten der vergänglichen Journalistik ausgefochten – bis in die Gegenwart. Vincent van Gogh als Prototyp des Künstlers schlechthin sieht sie als Vertreter des Paradigmenwechsels zur Moderne, der mit dem hergebrachten Verweissystem zu Natur bricht und den Zeichen selbst einen höheren Wert zugesteht, während sich seine Biografie als Paraphrase einer „Legenda aurea“ rezipieren lässt. Die Unfähigkeit der altmodischen Literatur, diesen Wechsel zu begreifen, schafft diese Lücke, sodass das Modell zwar variiert, aber noch nicht ausgetauscht werden kann: Picasso, das Genie – Duchamp, der Held – Dalí, der Harlekin – Warhol, der Dandy – Beuys, der Prophet.

 

Wer es in der Kunst geschafft hat, befindet sich nach dieser Analyse nicht mehr am Rand der Gesellschaft, sondern als Elite in dessen Zentrum. Allerdings ist der Erfolg nur den wenigsten vergönnt. Gerade die Attraktivität einer vermeintlichen Meritokratie sorgt seit dem Fall der höfischen Privilegien und der Möglichkeit eines informellen Zugangs für einen seit mehr als 200 Jahren wachsenden Zustrom. Heinich illustriert mit erhellenden Fakten, dass einerseits diese Menge innerhalb der einzelnen Disziplinen zunimmt als auch die Menge der Künste selbst: Teilweise verstehen sich Politiker, Wissenschaftler und Großbürgertum selbst als Künstler; Anfang des 20. Jahrhunderts etablierten sich die einst als Gaukler verachteten darstellenden Künstler, später folgen Film- und Theaterregisseure, Comiczeichner, Köche, Modezeichner etc. Eine überschaubare Elite von einem bis zwei Prozent der Künstler, die von Privilegien, Preisen und guten Beziehungen bis in die höchsten Kreise profitieren, steht so einer stetig steigenden Masse verzweifelter Hungerleider gegenüber, die kaum Chancen haben. Ihre gut zehn Seiten lange Analyse des Begriffs Elite, bei der sie sowohl sämtliche reflexhaften Phrasen der Pro-Fraktion als auch die der Contra-Fraktion gegenüberstellt, um schließlich zu einer nachvollziehbaren Rechtfertigung von Prestige und Leistung zu gelangen, ist ein Glanzstück wissenschaftlicher Essayistik – rhetorisch und argumentativ brillant.

 

Britta Madeleine Woitschig (08/08)

 

Nathalie Heinich: L`élite artiste. Excellence et singularité en régime démocratique (Coll. Bibliothèque des Sciences Humaines, nrf), Éditions Gallimard 2005, 371 Seiten

 

 

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