12. August 2008

Noch eine letzte Lockerung

 

Die zeitgenössische Kunst ist nicht alles, was zeitgenössisch in der Kunst der Fall ist. Insofern scheint auch in der postmodernen Kunst ein avantgardistischer Filter zu stecken, der sonst und früher in der modernen Kunst für Ordnung, wenn auch nicht für Ruhe sorgte. Damals, es ist ja noch gar nicht so lange her, hieß es: Geht es weiter oder geht es nicht weiter. Heute ist es keine Frage, ob und dass es weitergeht, nur mögen sich nicht wenige fragen, was es mit dem „Anything goes“ noch auf sich habe. Geht wirklich alles, war alles schon irgendwie da, wird nur anders verkauft? Sind die Künstler nicht längst die Deppen des Kunstmarkts, der sich ihrer als eines bequemen Goldzubringers bedient? Gibt es heute noch so etwas wie einen Einsatz der Kunst, einen Kampf, der gekämpft wird, ein Ziel, das erreicht werden soll?

 

Der Titel von Marc Jimenez’ Buch ist nicht so sehr eine Anspielung auf die legendäre „Querelle des Anciens et des Modernes“ als eine Stellungnahme zu einer sehr französischen Auseinandersetzung in Frankreich zu Beginn der 1990er Jahre. Die (bildende) Kunst ist in Frankreich Staatssache. Eine Art generalisierte „Kunst am Bau“. Gesetzlich festgelegte Auftragskontingente. Wunderbar für die Künstler. Aber auch für die Kunst? Das haben sich zuerst öffentlich ein paar Leute in der Zeitschrift „Esprit“ gefragt. Lässt sich der Staat mit der alimentierten Kunst nicht einen albernen Bären aufbinden? Es waren vor allem Enttäuschte, die sich meldeten und im Angesicht der zeitgenössischen Kunst, verglichen mit der „Grand Art“, nur Nullitäten zu vermelden hatten. Nicht alle hängten die Sache philosophisch so hoch auf wie Jean Baudrillard, der 1995 einer der letzten war, der sich in Sachen „querelle“ (Streit) zu Wort meldete. Seine Simulationsthese verhieß natürlich nichts Gutes für die Gegenwartskunst. Das Problem mit Baudrillard ist natürlich immer, wie man seine Texte selber im Verhältnis zu dem, was sie postulieren, zu interpretieren hat.

 

Wie auch immer, ob mit oder ohne Baudrillard, die Situation im Frankreich der ersten Hälfte der 90er Jahre scheint kunstkritisch und ästhetisch exemplarisch genug, auf andere kunstmarktaffine Länder ausgedehnt werden zu können. Jeder Besucher von Galerien und Gegenwartsmuseen kennt das Gefühl von nicht wohlwollender Herablassung dem gegenüber, was ihm dort in Form von z.B. „grenzüberschreitender Kunst“ geboten wird. Ein neues Sehen soll eingeübt werden. Die Kunst macht sich zum Anwalt des Neuen und (also) Besseren. Clichés werden (endlich) aufgebrochen. Und sei es mit Hilfe von Clichés (vielleicht Andy Warhol?). Auf der einen Seite werden übersteigerte Erwartungen geschürt, die eigentlich nur enttäuscht werden können. Auf der anderen Seite fragt man sich, wer am (kultischen) Aufbau schuld ist. Die Künstler? Oder nicht vielmehr der Restring des Kunstsystems in Form von Kuratoren, Museumsdirektoren, Kritikern etc.? Eine wohlfeile Entgrenzungsrhetorik den Künstlern einfach übergestülpt?

 

Die These von Marc Jimenez ist, dass die Ästhetik in Sachen zeitgenössischer Kunst dieser noch nicht mal hinterher läuft, sondern diese dirigieren möchte, ohne groß über sie selbst nachzudenken. Ob moderne Kritiker (Adorno, Greenberg) oder postmoderne (Danto, Weitz), es sind vor allem die einengenden Konzepte der Kritiker selber, die daran schuld sind, an der zeitgenössischen Kunst vorbeizureden und sie nicht in ihrem Reichtum zu erkennen. Jimenez fordert dazu auf, weder vorschnell die heutige Kunst als Müll abzutun noch sie in einem großen oder kleinen Begriffsgewitter zu ersticken. Geschmack mag ja wirklich subjektiv sein, aber ist er deshalb gleich idiosynkratisch? Könnte man nicht den Versuch machen, wie das seinerzeit Jean-François Lyotard vorgeschlagen hatte, in einem einlässigen Bemühen den Regeln auf die Spur zu kommen, die zu entwickeln eigens das Kunstwerk angetreten ist, ohne sich ihrer also als schon bekannten zu bedienen? Das wäre eine sehr anspruchsvolle Rolle von Kunst, auf die man sich einlassen und die man vor allem der Kunst zumuten würde, die sicher nur in ihren seltenen und gelungenen Exemplaren eben genau das bewerkstelligt.

 

Wäre man hier also nicht schon wieder bei der „Großen Kunst“ angelangt, die man glaubte, hinter sich gelassen zu haben. Teuer und immer teurer ja, aber deshalb wirklich groß? Und groß im Verhältnis zu was? Sehr zur ästhetischen Entspannung beitragend weist Jimenez ohne Rilke zu nennen einmal wieder auf die letztlich unbeschreibliche Wirklichkeit hin, die jeden Tag aufs Schärfste und Härteste in der Lage ist zu provozieren, zu skandalisieren, zu ästhetisieren, ohne sich fragen zu müssen, ob das „Produkt“ verkauft werden kann. In zweiter und dritter Potenz ist es „da“ und verweist auf den Ernstfall (trotz Baudrillard), von dessen Tragweite Kunst nur träumen kann. Was in Kunstsachen heute übrig bleiben wird, kann man nicht wissen. Aber vielleicht ist das auch ganz gut so und bringt einen dazu, schön locker zu sein.

 

Dieter Wenk (08-08)

 

Marc Jimenez, La querelle de l’art contemporain, Paris 2005 (Gallimard, folio essais)