21. Oktober 2003

Sterben auf Raten

 

 

Von Gustav Mechlenburg

 

Eine Familie auf der Flucht. Wovor? Es gibt keinen Grund. Zumindest keinen ersichtlichen, außer der Trauer über den Tod des Neugeborenen. Der Verlust wird nicht hingenommen. Die Eltern buddeln, wenn wir den berichtenden Kindern Glauben schenken können, das Baby aus seinem Grab wieder aus. Präparieren es notdürftig, indem sie die Innereinen mit Papier ersetzen. Legen es in eine Spielzeugkiste hinten im Wagen. Und machen sich auf den Weg von Mineola in Texas nach Gaylord in Michigan, wo anscheinend der Großvater wohnt.

 

Mit Logik hat das nichts zu tun. Und der 1967 geborene Amerikaner Michael Kimball hat auch nicht vor, die Handlung verständlich zu machen. Was er in seinem Debütroman „Eine Familie verschwindet“ versucht, ist ein sprachliches Experiment. Aus Sicht und in den Worten der beiden namenlosen Kinder beschreibt er den Verfall einer Familie auf teils makabre, teils ergreifend verstörende Art und Weise.

 

Der siebenjährige Sohn protokolliert die Strecke der Reise und die Gegenstände, die seine Eltern verkaufen. „Wir tauschten unsere Sachen gegen Meilen.“ Da es sich um ihr gesamtes Hab und Gut dreht, verarmt die Familie zusehends. „Wir waren dabei, alles andere wegzugeben, was wir in unserer richtigen Familie noch hatten, und auch unsere richtige Familie würden wir weggeben. Wir würden durch Städte fahren und durch andere Orte und Dinge kommen, die überall am Weg lagen. Aber wir würden nicht davon wegkommen, was meinem Bruder und unserer Familie zugestoßen war, und wir würden auch keine Familie mehr sein, wenn wir den ganzen Weg dorthin hinter uns hätten.“

 

Die etwas jüngere Tochter verarbeitet das Elend anders. Sie spielt, solange sie ihre Puppen noch hat, familiäre Situationen nach. „Meine Puppen-Familie spielt besser Familie als meine Menschen-Familie.“ Nach ihren Winterkleidern muss sie bald auch die Puppen gegen Papierfiguren tauschen. Doch für das Mädchen ist noch nicht alles verloren. „Unsere ganze Menschen-Familie würde wieder anfangen zu leben, sobald wir mit unserem Haus-Auto bei Bompas Haus ankamen.“

 

Der Weg dorthin ist weit und trist. Doch dass die Fahrt so lange dauert, dass die Mutter erneut schwanger werden kann, muss der Leser wohl nicht verstehen. Auch dieses Säugling ist nicht lebensfähig. „Es war nicht Mensch genug, um in unserer Menschen-Familie zu leben. Es war kleiner als Babygröße und der andere von meinem kleinen Bruder, deshalb warf Momma das Baby wieder weg.“ Der Vater holt es aus dem Müll wieder heraus, und sie bringen es in eine Klinik. Dort ereignen sich für die Kinder anscheinend zauberhafte Dinge: „Die Großmenschen tranken mit ihren Armen aus umgedrehten Flaschen und atmeten aus umgedrehten Luft-Tassen, die über ihre Nasen und Münder gebunden waren. Das Essen aßen sie, indem sie das Tischlaken über sich zogen und dann darunter einschliefen , bis die Engel zurückkamen, um die Tabletts und die Fliegen und Käfer zu holen.“

 

Man kann sich bei derlei Beschreibungen nicht ganz sicher sein, ob es sich um unermessliche Fantasie oder doch eher um eine gewisse Zurückgebliebenheit der Kinder handelt. Erstaunlich zumindest, wie altklug und psychologisch andererseits die Kommentare ausfallen, als die Familie schließlich tatsächlich bei Bompa eintrifft. „Meine Mutter und mein Vater waren älter, sodass ihnen durch das Leben mehr Dinge passiert waren, deshalb mussten sie weiter in ihre Leben weggehen, um wegzugehen, als meine Schwester und ich.“ Oder noch besser: „Aber Sterben ist sowieso Weggehen. Du stirbst, wenn alle anderen in dir weggehen.“

 

Wenn man nach der Lektüre erneut das umfangreiche, für knapp 150 Seiten immerhin 5 Seiten umfassende, Inhaltsverzeichnis durchgeht, fragt man sich nicht nur, was Kimball mit dieser Strukturierung beabsichtigt, sondern worum es im Buch überhaupt geht. Aus Kinderperspektive zu schreiben, macht vielleicht doch mehr Sinn, wenn es dadurch etwas zu ent- oder aufzudecken gibt. All die Stellen, die in dem Roman aber zum Nachdenken anregen, traut man gerade nicht den Kindern, sondern allein dem Erzähler selbst zu. Vielleicht hätte er gleich das Wort ergreifen sollen.

 

Michael Kimball: Eine Familie verschwindet. Suhrkamp 2002