23. Mai 2008

Liebe und andere Beziehungen


Grenzverwischung zwischen Mensch und Tier

 

Von Heike Fuhlbrügge

 

 

 

Das Thema der Mensch-Tier-Beziehungen findet sich häufig in der zeitgenössischen Kunst. Die bisherigen Deutungsebenen kreisten zumeist um das Tier in anthropozentrischer Sichtweise, in der es als das ‚Andere’ des Menschen verstanden wurde und das Tiersymbol zudem von jeher Projektionsfläche für geistesgeschichtliche Ideenfelder wie der Alchemie oder Temperamentenlehre u.v.a. mehr war.[1]

Doch welche Wende zeichnet sich in der Verwendung von Tiermotiven in der zeitgenössischen Kunst ab, die ausgestopfte Tierkadaver ebenso wie lebende Tiere, Tiermaskeraden und Motive der Grenzüberschreitungen zwischen Mensch und Tier darstellen? Kann man bisherige Deutungen auf neuere Tiervorstellungen anwenden? In der zeitgenössischen Kunst entwickelt sich ein animal turn, in dem das Motiv des Tiers neue Bedeutungsebenen erreicht.

Das Motiv des Tiers in empathischer Beziehung zum Menschen beispielsweise ist in der Kunst neu zu verorten.

 

Abb. 1: Lisa Endriss, o.T. aus der Serie pets, 2007, Öl auf Leinwand 90 x 119 cm, © Courtesy Laura Mars Grp., Berlin
23. Mai 2008

 

Dieses häufige Motiv neuartiger Beziehungen zwischen Mensch und Tier in der zeitgenössischen Kunst, wie beispielsweise in der Arbeit von Lisa Endriss (Abb. 1) wirft Fragen auf, in welcher Weise man das Tier darin als Individuum, Freund oder domestizierten Partner vorfindet?

 

 

Das Tier: Freund, Partner und Kollege

 

Reale Beziehungen des Menschen zu Tieren finden sich im Zusammenhang mit Haustieren, die als Begleiter und Freund fungieren ebenso wie bei der Dressur im Zirkus oder im Zoo, wo sie häufig als Kollegen und Partner verstanden werden.[2] In jeder dieser Beziehungen kommt dem Tier eine spezielle Rolle zu und außer zum Nutztier, hat sie pathischen Charakter. In soziologischen und anthropologischen Untersuchungen zur Mensch-Tier-Beziehung hebt man besonders die pathischen Fähigkeiten von Tieren hervor, das heißt ihr Vermögen, Kontakte zu knüpfen, wie Jörg Bergmann beschreibt: „Die pathische Qualität von Haustieren erleichtert uns im Alltag die Aufrechterhaltung dessen, was Erving Goffman ‚working consens’ genannt hat. Haustiere sind par excellence in der Rolle des ‚Dritten’, über den vermittelt zwei Parteien Kontakt miteinander aufnehmen [...] können.“[3]

Neben der freundschaftlichen Beziehung, in der das Tier als Begleiter oder Vermittler im Alltag fungiert, gibt es auch das gezähmte Wildtier als Kollege und Partner. Bekannt ist u.a. Siegfried und Roys Tigershow in Las Vegas und deren besondere Beziehung zu ihren dressierten Raubkatzen.

Die Frage, die sich stellt, ist, in wie weit das Tier als empathischer Begleiter, Vermittler, Kollege und Partner als Individuum wahrgenommen wird und als ein Ich verstanden wird oder weiterhin als Projektionsfläche des Menschen dient?

 

Tiere verstehen

 

Ludwig Wittgenstein bemerkte in seinen Philosophischen Untersuchungen „wenn ein Löwe sprechen könnte, wir könnten ihn nicht verstehen“,[4] da seine lebensweltliche Erfahrungen von denen der Menschen differieren und er somit eine ‚andere Sprache’ sprechen würde.[5] Charles Darwin hingegen hatte bereits festgestellt, dass gewisse Reaktions- und Gefühlsebenen beim Tier, ähnlich wie beim Menschen ausdifferenziert seien. Zwar spreche das Tier somit keine dem Menschen verständliche Lautsprache, doch könne es über die Differenziertheit der Ausdrucksformen hinreichend kommunizieren. Die Empfindungsintensität und Wahrnehmungssensibilität beschrieb Darwin in seiner Schrift Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren. In dieser Studie gesteht er dem Tier gleich dem Menschen zu, Empfindungsvermögen, Seelenleben und Gestik wie Nachdenken, Schmollen, Zorn, Überraschung und Erstaunen sowie auch Scham und Schüchternheit u.a. zum Ausdruck bringen zu können.[6] Den Zusammenhang und Affektübertragung menschlichen und tierischen Verhaltens stellt er heraus. Denn nicht nur in der Abstammung, auch im mimetischen Verstehen waren Mensch und Tier nun ganz nahe gerückt und bildeten eine ideengeschichtliche und biologische Einheit. Mit den fast liebevollen Worten „come, little friend“ beispielsweise, wie er im Tagebuch festhielt, versuchte Darwin auf einer seiner Expeditionen, einen Vogel anzulocken, und geht damit über seine rein wissenschaftlich, analytisch geprägte Sichtweise hinaus, indem er eine Art von verstehender Beziehung andeutet.[7]

Die international bekannte Domteurin Sara Houcke beispielsweise, die mit den Katzen von Siegried und Roy ebenso wie mit den Großkatzen im Roncalli Circus gearbeitet hat, wird als „Tiger-Flüsterin“ oder „catwoman“ benannt.[8] Auf Fotos zeigt sie sich Kopf an Kopf mit einem weißen Tiger, in einer Haltung, als ob sie ihn Küssen wolle.[9] Sie wird beschrieben als „the living embodiment of the indelible bond that forms between animal and human“.[10] Paul Chin und Bob Meadows berichten, dass Sara Houcke die „Tigersprache“ (tiger speak)[11] beherrsche, was die Grenzen zwischen Mensch und Tier auflöse. Tanja Schwalm erläutert in ihrem Aufsatz No Circus Without Animals, wie der Zirkusbetrieb sich auch als „‚natural’ space“ für die dort auftretenden und lebenden Tiere versteht.[12] Das Natur verhaftete, wilde und ungezähmte Tier werde, so hat man angenommen, mehr ‚vermenschlicht’ durch das Training und Aktionen mit Menschen, und somit ist der ‚natural space’ ein Kontrollraum des Menschen über das Tier, da es nach der Show wieder in seinem Käfig sein Dasein fristen muss.[13] Doch wie folgenschwer ein Missverstehen der individuellen ‚Tigersprache’ sein kann und wie gänzlich anders ein Tiger seinen ‚natural space’ auffassen kann, konnte man in der Weltpresse miterleben, als Roy am 3. Oktober 2003 von einem Tiger während seiner Show lebensgefährlich verletzt wurde.[14]

Im Zoo steht das Tier auch als Metapher für den Naturzustand, wie John Berger in seinem Essay Warum sehen wir Tiere an? ausführt: „Dieser Naturauffassung zufolge wird das Leben des wilden Tiers zum Ideal, zu einem internalisierten Ideal, das einen verdrängten Wunsch in Form eines Gefühls umkleidet.“[15] Doch welcher Wunsch und welches Gefühl sind damit gemeint?

Am Beispiel des Besuchers, der sich im Zoo in Beziehung zum Tier im Käfig setzt, kann man Antworten auf Fragen nach der empathischen Beziehung zum Menschen finden. Christine Noll Brinkmann erläutert dazu in ihrem Aufsatz Empathie mit Tieren:

„Die unverbrauchte Attraktivität des Zoos lässt sich zum Teil mit empathischen Prozessen erklären. Selbst Besucher, die Tieren eigentlich die Freiheit wünschen, können sich dem Reiz der direkten Gegenüberstellung, der Spiegelung, dem unwillkürlichen Vergleich mit dem Tier nicht entziehen. Sie schauen auf die Löwen und empfinden sich als muskulös und von sandfarbenem, seidigem Fell überzogen [...].“[16]

Im Vergleich mit den Stärken, der Schönheit und Empfindungsintensität eines Tiers zeigt sich, wie nahe sich der Mensch dem Tier fühlen kann.

 

Empathische Grenzverwischung

 

In einem Beispiel aus der zeitgenössischen Kunst wie dem Video von Simone Haeckel Sleeping (2006, 00:03:00 Min. Loop) (Abb. 2) liegt in einer friedvollen Szenerie im Kinderzimmer, ein Tiger im Doppelstockbett über einem schlafenden Kind, als: „Beschützer, bester Freund, Geheimnisträger und Tröster“, wie es die Künstlerin erläutert.[17]

 

 

Abb. 2: Simone Haeckel, Sleeping, 2006, loop, 03:00 Minuten © Simone Haeckel, Berlin 2008
23. Mai 2008

 

Das Wildtier soll in der kindlichen Imagination seine Stärken auf das Kind übertragen. Wie in der Kunstgeschichte codiert, werden hier mit neuen Mitteln Vorstellungen transportiert, in denen tierische Eigenschaften als Metaphern für defizitäre Zustände des Menschen dienen sollen.

Die amerikanische Künstlerin Carolee Schneemann wiederum setzt sich in dem Teil ihrer Arbeiten, in dem sie biografische Bezüge herstellt, stark mit ihrer empathischen Beziehung zu ihren Katzen auseinander. Ihre Katze Kitch inspirierte sie bereits 1965 zu ihrem Film Fuses und noch 1992 drehte sie mit der Künstlerin Victoria Vesna ein Video über ihre Katze mit dem Titel Vesper’s Stampede To My Holy Mouth. Schneemann nimmt auch häufig auf die Lebensspannen ihrer Katzen Bezug, ihre erste Katze war Kitch (1957-1976), danach kam Cluny I (1977-1979) gefolgt von Cluny II (1981-1988) und zuletzt lebte Vesper (1990-1998) bei ihr.

Welchen Stellenwert Schneemann ihren Haustieren beimaß, verdeutlicht ihre Äußerung über Kitch, der sie sogar ihr Überleben in einer schwierigen Phase ihres Lebens zuschrieb:

„I felt like I had fallen into a pit and couldn’t get out. I would lie in bed and imagine how long it would take for my blood to reach the door if I slit my wrists. Only Kitch kept me alive. She told me to eat, to open the windows, to get out of bed. She was my guardian.“[18]

 

 

Abb.3: Carolee Schneemann, Infinity Kisses, 1981-1988, Wandinstallation, 35mm Fotografien; Xerachrome auf Leinen mit 140 Bildern: San Francisco Museum of Modern Art. © Carolee Schneemann, 2008
23. Mai 2008

 

Mit ihren Katzen Cluny I und Cluny II nahm sie die Fotoserien Infinity Kisses I (1981-1987) und Infinity Kisses II (1990-1998) über mehrjährige Zeiträume auf. Jeden Morgen nach dem Aufwachen küssten diese Katzen Schneemann, was sie mit einem Fotoapparat festhielt, der neben ihr auf dem Nachttisch lag (Abb. 3). Sie erläutert dazu:

„My exhibition in March 1989 at the Emily Harvey Gallery in New York raised all the same difficult issues about the perception of the body and the body as a source of structuring form. Infinity kisses is a work of over one hundred forty color photographs displayed in a nine-by-seven-foot arc. Over a six year period I shot, at available light, close-ups of my cat Cluny’s morning ritual mouth-to-mouth kisses. Because in many of the photographs you can see tongues touching, many people found the sequence obscure.”[19]

Das morgendliche Ritual des ‘Küssens’ erscheint eigenartig und die Intimität eine Grenzverwischung zwischen Mensch und Tier, wie auch in der Videoarbeit von Martin Mlecko Stand By Your Man von 2001 (2:33 Minuten) hat der Hund Phibi Zuneigung zu (oder Geschmack an) einem Menschen gefasst (Abb. 4).[20]

 

 

Abb. 4: Martin Mlecko, Stand By Your Man, 2001, 02:33 Minuten, loop © Martin Mlecko, 2008
23. Mai 2008

 

In dem Loop lecken sich ein junger Mann und ein Hund genüsslich ab. Fast unerträglich erscheint ihre Hingabe bei ihrer intensiven Tätigkeit. Auch in der Videoarbeit von Ene-Liis Semper Natural Law (1998, 6 Min.) kommt es zu diesen Grenzüberschreitungen. Darin krabbeln Hundewelpen auf der nackten Künstlerin, die sie auch ableckt.[21]

Die Wissenschaftshistorikerin Donna Haraway versucht in ihren Überlegungen mit dem Titel The Companion Species Manifesto auf tiefe, respektvolle Beziehungen zwischen Mensch und Tier hinzuweisen. Am Beispiel von Hund-Mensch-Beziehungen stellte sie die Frage auf: „How might an ethics and politics committed to the flourishing of significant otherness learn? From taking dog-human relationships seriously?“[22] Sie konstatiert, dass es neben vielen neurotischen Mensch-Tier-Beziehungen auch eine „Art der Liebe“ zwischen Mensch und Tier geben könne.[23]

Kann man die Beziehung von Schneemann zu ihrer Katze oder Phibis zu dem jungen Mann folglich als Liebesbeziehung verstehen? In wie weit ist Liebe mit einem Subjektbegriff für das Tier verbunden? Der Humanmediziner Peter Singer stellte bereits provokante Fragen nach einer Personenschaft von Lebewesen, „die nicht Mitglied unserer Spezies ist. Es könnte auch Mitglieder unserer Spezies geben, die nicht Personen sind“. Und weiter: „Es klingt merkwürdig, ein Tier eine Person zu nennen. Daß es merkwürdig klingt, mag lediglich ein Symptom für unsere Gewohnheit sein, unsere Gattung scharf von anderen abzugrenzen.“[24]

Woran bindet man nun den Subjekt/Personenbegriff? Am Vermögen Zeit zu empfinden, sprechen zu können, Selbstbewusstsein, Bewusstsein oder Empfindungsfähigkeit zu haben? Oder ist es, der Blick, wie Jaques Derrida ihn am Beispiel seiner Katze beschrieb, die morgens in sein Badezimmer kam und er sich schamvoll von ihr beobachtet fühlte.[25] Dass Tiere Bewusstsein und Empfindungsvermögen haben ist allgemein hin bekannt und somit mögen die Katzen und auch Phibi eine ‚Art Liebesverhältnis’ gehabt haben.[26] Damit verwischen bisherige Grenzziehungen zwischen Mensch und Tier und eröffnen sich neue Perspektiven.

Die Philosophin Karen Barad definiert diesen Bereich als eine „intra-action“ im Gegensatz zur "inter-action", als einen weitgreifenden Übergang zwischen Natur und Kultur, als eine Art Verwischung der Grenzen, die keine Schranken mehr kenne.[27]

 

Grenzverwischung zu „Tier-Werden des Menschlichen“[28]

 

Wie versteht Schneemann ihre eigene Haltung und Beziehung zu ihren Tieren, deren Verhalten und Biografien so wichtig für sie sind? Sie argumentiert, dass sie sich selber hier als eine Art "bewusste Form" verstehe:

„[...] The invisibility of self that I experience means I don’t realize myself here. I’m a conscious form avaiable for use. The culture obfuscates lived experience, the female erotic, and the sacredness of sexuality.”[29]

Damit meint Schneemann, dass sie nichts von ihrer Katze erzwingt, was in irgendeiner Weise nicht dem Willen von Cluny I oder Cluny II entspräche. Sie selbst sei eine „Form“, die ihre Katze für ihre Zuneigung ausgewählt hat. Weiterhin stellt sie aber auch fest, dass alles was mit diesen Katzenküssen zusammenhinge wie „Zärtlichkeit“, „Nachgeben“ oder „Feuchtigkeit“, so argumentiert Schneemann, „Tabu-Themen“ seien, auf die sie aufmerksam machen wolle, da diese als „weiblich“ isoliert würden.[30]

Die Themen ‚Weiblichkeit’ und ‚Katze’ greift Schneemann hier auf, wie sie bereits aus der Kunstgeschichte bekannt sind: Bereits in dem berühmten Ölbild der Olympia (Abb. 5) von Manet (1863) ist, im Gegensatz zu Tizians Vorbild Venus von Urbino, keine keusche Braut dargestellt, sondern eine den Betrachter provozierend anblickende nackte Frau.[31]

 

Abb.5: Eduard Manet, Olympia, 1863. Museé D’Orsay, Paris © Musée D’Orsay, Paris 2008
23. Mai 2008

 

Bei Tizian symbolisierte der Hund Venus’ Treue, der nun einer schwarzen Katze mit Buckel und geweiteten Augen, am Fußende in der unteren rechten Bildhälfte, gewichen ist. Die Katze steht für Sinnlichkeit und ist bereits in Cesare Ripas Iconologia mit launischem Freiheitssinn und der Nacht assoziiert.[32] Diese Zuordnung entsprach der Temperamentenlehre, in der die Katze den cholerischen Typ verkörperte.[33]

Schneemann greift hier auf klassische Weiblichkeitsmodelle zurück, wie sie sie bereits seit den 70er Jahren in ihren Performances als weibliche Gottheiten dargestellt hatte. In ihrer künstlerischen Praxis versucht sie neue Frauenbilder zu generieren, indem sie alte dekonstruiert, wie beispielsweise den Olympia-Typus. Sie übertreibt diese tradierten Frauenbilder, indem die Katze nicht mehr nur Metapher größter eigenwillig, ‚cholerischer’ Unbeherrschbarkeit und erotischer Spannung ist, sondern direkt einen küssenden Akt mit einer Katze vollzieht. Im Manetschen Bild ist der Akt durch die provokante Nacktheit der Frau und der sinnlichen Gespanntheit der Katze nur angedeutet.

Im poststrukturalistischen Diskurs, in den Schneemann’s Arbeiten eingeordnet werden, wurde davon ausgegangen, dass Weiblichkeit und Männlichkeit rein gesellschaftliche Konstruktionen seien, und keine biologisch festgeschriebene Geschlechtlichkeit existiere, somit der Frauenkörper Teil eines patriarchalisch geprägten Repräsentationssystems sei.[34] In diesem Kontext ließe sich Schneemanns Fotoinstallation so verstehen, dass sie gesellschaftliche Klischees und Tabu-Themen aufgreift und sie "intra-activ" dekonstruiert. Scheinbar erhalten ihre Katzen einen Subjektstatuts, den sie aber zugunsten einer Metaphern- und Symbolebene wieder verlieren.

Auch in der Videoarbeit von Daniel Urria getting it (over with) von 2006 (Abb. 6) ist eine Dekonstruktion klassischer Vorbilder sichtbar.

 

 

Abb. 6: Daniel Urria, Urria getting it (over with), 2006, ingle-channel Video Installation, 00:58 min Loop, PAL, Stereo © Daniel Urria, Berlin 2008
23. Mai 2008

 

In dem Film liegt auf einem Podest erhöht eine junge, nackte Frau, die eine unterhalb von ihr unruhig herumlaufende Hunderotte beobachtet. Einige Hunde versuchen am Fußende des Podestes hochzuspringen und die Frau zu erreichen. Das Video ist als Loop montiert und beginnt nach 00:58 Sekunden neu. Durch seine ständige Wiederholung vermittelt es Spannung und hermetische Kreisläufe. Der Blick auf die nackte passive Frau und die aggressiv herumlaufenden Hunde spielt mit dem Klischee der vitalen sexuellen Energie der Tiere, die die passiv laszive Frau bestürmen, die wie eine Ingresche Odalisque oder Manetsche Olympia ihren Körper präsentiert. Urria wollte, so gibt er im Interview an, die „unbewusste erotische Spannung der Tiere“ darstellen.[35]

Doch inwieweit kann diese anthropozentrisch ausgerichtete Sichtweise auf das Tier als ‚das Unbewusste’ neu gelesen werden? Wichtig erscheint, dass der Blick der Frau nicht passiv starr ist, sondern aktiv die Szene unter ihr beobachtet. Der Künstler stellt dazu die Frage, ob die Frau nicht „auf die animalische Kraft ihres eigenen Begehrens“ blicke?[36] Diese Blickkonstruktion ist aktiv und introspektiv gleichermaßen. Der aktive Blick der nackten Frau verdeutlicht eine egalisierende Kraft, wie sie beispielsweise Jacques Derrida in Bezug auf sein Haustier schon festgestellt hatte.[37] Die Scham, die er dabei empfunden hatte, machte ihm mit einem Mal bewusst, dass er genauso Tier wie die Katze Mensch ist und die Grenzen sich gleichermaßen verwischen.[38]

Wie Schneemann dekonstruiert auch Urria vorgegebene Bilder. Der Frau und den Tieren werden gleichermaßen dieselben erotischen Kräfte zugeordnet und sind in ein enthierarchisiertes Verhältnis zueinander gestellt. Man weiß nicht, welches lauernde Begehren dabei nun bedrohlicher wirkt, das der begehrlich blickenden Frau oder der hechelnden Hunde.

 

Obwohl auch in der neunteiligen Fotoserie des chinesischen Performancekünstlers Zhang Huan es um das Thema Begehren geht, scheint die Grenzüberschreitung am Thema Tier beidseitig auch zur Seite des Menschen hin angelegt zu sein.

 

 

Abb. 7: Zhang Huan, Window, 2004, Set von 9 Color C-Prints, jedes 101,6 x 127 cm, Edition 25, Courtesy Galerie Volker Diehl, Berlin, Photography © Zhang Huan Studio, Shanghai 2008
23. Mai 2008

 

In der Abfolge der Fotos ist Huan zu sehen, wie er zuerst halb angezogen einem Esel gegenüber steht, dann sich immer weiter entkleidet und der Esel mit dem Künstler genauso wie Huang mit dem Esel eigenartige Liebesakte vollzieht (Abb. 7), die bisweilen auch komisch wirken.

Eindeutig nimmt der Künstler Bezug auf die Performancekunst der 60er und 70er Jahre, etwa die Aktion von Joseph Beuys I like America and America likes Me, die er 1972 mit einem Kojoten in der Galerie René Block in New York aufgeführt hat. Beuys wählte damals den Kojoten als ursprünglich amerikanisches Tier, so wie Zhang Huan das typische Nutztier Chinas, den Esel, in seiner Aktion einsetzte.[39] Der zunächst am Seil geführte Esel verliert während der sodomistischen Akte (von Mensch zu Esel und von Esel zu Mensch) seine Gefangenschaft, da in den letzten Bildern das Seil des Esels nur noch frei herunterhängt. Die Frage kommt auf, ob durch die Liebesakte zwischen Mensch und Esel, die ja angedeutet gegenseitig vorgenommen werden, eine empathische Beziehung zwischen beiden besteht und der Esel als Subjekt in dieser Arbeit verstanden wird? Obwohl beide gleichermaßen den Akt als Liebespartner vollziehen, bleibt die Isolation von Huan und dem Esel spürbar. Wahrscheinlich ist dies auch vom Künstler intendiert, da das Arbeitstier Chinas, trotz der scheinbar gewonnenen Freiheit keine Perspektiven zu haben scheint. Der Esel wird in der Fotoserie scheinbar mit Subjektstatus dargestellt, doch letztlich ist das Motiv des Esels als politische Metapher für den Aufschwung der rückständigen Ökonomie (Goldesel?) verstehbar, die keine Autonomie zum Nutzen aller gewinnt.

Auch in dem Video Soothy Kitty (2006, Loop, 01:33 Min.) von Ewdina Ashton ist die physische und psychologische Isolation „of the human and animal condition“, wie es Sally O’Reilly treffend festgestellt hat,[40] spürbar. Darin streichelt Ashton, die eines ihrer Tier/Insektenkostüme trägt, sozusagen als ‚Tierhafte’ ihre Katze.[41]

Die aufgezeigten unterschiedlichen empathischen Beziehungen in den Arbeiten sind in den Einzeluntersuchungen häufig zu komplexen Realitätsbestimmungen gesellschaftlicher Konstruktion sowie deren Dekonstruktion oder Projektionen geworden. Das Thema Liebe und empathische Beziehung zwischen Mensch und Tier assoziiert dabei einen Subjektstatus des Tiers, den es in der Analyse häufig nicht halten konnte, wenn sich, wie beispielsweise in der Arbeit Infinity Kisses gezeigt hat, dass das Tier als Metapher gedient hat. Neue Aspekte der Gleichstellung zwischen Mensch und Tier, wie sie die Animal Studies untersuchen,[42] konnten dafür beispielsweise in der Arbeit von Daniel Urria aufgezeigt werden.

 


[1] Vgl. Cesare Ripa: Iconologia overo descrittione di diverse imagini cauate dall’antichità, & di propria inventione, Rom 1603, abgedr. in: Ders.: Iconologia overo descrittione di diverse imagini cauate dall’antichità, et di propria inventione, eingel. v. Erna Mandowsky. Hildsheim u.a. 2000.

 

[2] René Strickler: Meine Philosophie. Website: www.renestrickler.ch/freundschaft_index.html [01.01.08] sowie ders.: Tierlehrer. Website: www.renestrickler.ch/index_tierlehrer.htm [15.03.04]; Cirkus Krone: Tierhaltung. In: www.circus-krone.de/en/tiere/tierhaltung.html [10.12.07] vgl. auch Ernest Albrecht: The New American Circus. Gainesville Florida 1995.

 

[3] Jörg Bergmann: Haustiere als kommunikative Ressourcen. In: Hans-Georg Soeffner (Hg.): Kultur und Alltag. Sonderhaft 6 der Zeitschrift Soziale Welt, Göttingen 1988, S. 312.

 

[4] Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen. Frankfurt am Main 1971, S. 260.

 

[5] Vgl. Gertrud Koch: Von der Tierwerdung des Menschen. Zur ensomotorischen Affizierung. In: Tiere eine andere Anthropologie. Hg. von Hartmut Böhme / Franz-Theo Gottwald / Christian Holtdorf u.a., Köln, Weimar, Wien 2004, S.41-50, hier S. 42.

 

[6] Charles Darwin: Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren. Frankfurt am Main 2000.

 

[7] Zit. n. Lynda Lynn Haupt: Pilgrim and The Great Bird Continent. The Importance of Everything and Other Lessons from Darwin’s Lost Notebooks. New York / Boston 2006, S. 132.

 

[8] Siehe: www.roncalli-fanpage.de

 

[9] Sara Houcke auf der website: www.staring.com/main/articles [12.01.2008]

 

[10] Glenn Collins: Tiger Trainer Burning Bright, Circus Artist Spurns Whip out Chair. New York Times. Wednesday March 12, 2008, zuerst am 24. Feburar 2000 veröffentlicht, siehe Website: query.nytimes.com/gst [12.03.2008] und Ringling Bros. Website: www.ringling.com/132/stars/sara.asp (Explore the Shows: 132nd Edition) [25.8.2002]

 

[11] Paula Chin / Bob Meadows: Burning Bright. Move over, Siegfried and Roy – Tiger Trainer Sara Houcke Soothes the Savages Beasts with Kindness. Peeple Weekly, 17, April 2000, 136 (www.galegroup.com) [25.08.2002]

 

[12] Tanja Schwalm: No Circus without Animals. Animal Acts and Ideology in the Virtual Circus. In: Laurence Simmon / Philip Armstrong (Hg.): Knowing Animals. Leiden / Boston 2007, S.79-104, hier S.100.

 

[13] Albrecht (wie Anm. 2), S. 203.

 

[14] Vgl. www.cnn.com/2003/showBIZ/10/04/roy.attacked. [24.02.2008]

 

[15] John Berger: Warum sehen wir Tiere an? In: Ders.: Das Leben der Bilder oder die Kunst des Sehens. Berlin 1981, S. 25.

 

[16] Christine Noll Brinckmann: Empathie mit dem Tier. In: Cinema 42, 1997, S. 60-69.

 

[17] Simone Haeckel im Schriftverkehr mit der Autorin vom 08.03.2008.

 

[18] Carolee Schneemann, in: Linda Weintraub: Interspezies Eros. In: Ausst. Kat. Animal. Anima. Animus. Hg. von Marketta Seppälä / Jari-Pekka Vanhala / Linda Weintraub. Pori 1998, S. 129-133, hier S. 131.

 

[19] Carolee Schneemann im Interview mit Avira Rahmani, in: Carolee Schneeman: Imaging her erotics. Essay, Interview, Projects. Cambridge, Massachusetts / London 2002, S. 211-215, hier S. 214. Die Ausstellung, auf die sie hier Bezug nimmt hieß Self-Shot und zeigte die Arbeit Infinity Kisses I (1981-87).

 

[20] Martin Mlecko beschreibt auch wie Schneemann ihre Beziehung zu den Katzen als sehr intim. Phibi der Hund war sehr anhänglich zu dem jungen Mann und suchte selber den Kontakt. Interview der Autorin mit Martin Mlecko, in Berlin am 11.12.2007.

 

[21] Die Arbeit ist in der Ausstellung On The Edge of Love. Konspirationen zwischen Tier und Mensch im Souterrain n Berlin vom 6.6.-22.6.2008 zu sehen. [www.souterrain-berlin.de]

 

[22] Donna Haraway: The Companion Species Manifesto. Dog’s, People, and Significant Otherness. Chicago 2005, S. 3.

 

[23] Ebda., S. 38.

 

[24] Beide Zitate aus: Person. Philosophische Texte von der Antike bis zur Gegenwart. Hg. von Martin Brasser, Stuttgart 1999, S. 200.

 

[25] Jaques Derrida: L’animal que donc je suis (à suivre). In: Ders.: L’animal que donc je suis, hg. v. Marie-Louise Mallet. Paris 2006, S. 15-162.

 

[26] Vgl. Stephan Stich: Haben Tiere Überzeugungen? In: Der Geist der Tiere. Philosophische Texte einer aktuellen Dikussion. Hg. von Dominik Perler und Markus Wild. Frankfurt am Main 2005, S. 95-116.

 

[27] Vgl. Karen Barad: Meeting the Universe Halfway. Realism and Social Constructivism without Contradiction. In: Lynn Nelson / Jack Nelson (Hg.): Feminisam, Science, and the Philosophy of Science. Dordrecht 1996, S. 161-194 sowie zum Begriff der Grenzüberschreitung, siehe auch: Chris Wilbert: What is Doing the Killing? Animal Attacks, Man-Eaters, and Shifting Bounderies and Flows of Human-Animal Relations. In: The Animals Studies Group (Hg.): Killing Animals. Urbana / Chicago 2006, S. 30-49, hier S. 32.

 

[28] Félix Guattari und Gilles Deleuze: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, hg. v. Günther Rösch. Berlin 2005, S. 380.

 

[29] Ebd., S. 215. Ebd. Wilbert (wie Anm. 27)

 

[30] "[...] Tenderness, sensitivity, yielding, wetness, permeability are all taboo aspects, isolated as ‚female’. The cat is an invocation, a sacred being, profoundly devoted to communicating love and physical devotion, and the cat is self-directed.” Carolee Schneemann im Interview mit Aviva Rahmani On Censorship, in: Carolee Schneemann: Imaging her Erotics. Essay, Interview, Projects. London 2002, S. 211-215, hier S. 215.

 

[31] Vgl. Julius Meier-Graefe: Edouard Manet. Die 'Olympia'. In: Wolfgang Tenzler (Hg.): Über die Schönheit häßlicher Bilder. Berlin 1982, S. 145.

[32] Cesare Ripa (wie Anm.1), S. 212 (Hora sesta della notte), 233 (Inimicitia), 292-294 (Liberta).

 

 

 

[33] Auch Albrecht Dürer stellt das Motiv der Katze dar. Siehe: Albrecht Dürer Adam und Eva, 1504. Kupferstich, 24, 8 x 19,2 cm. London, British Museum. Vgl. Fedja Anzelewsky: Dürer. Wer und Wirkung. Erlangen 1988, S. 102 f.

 

[34] Vgl. Anette Kubitza: Fluxus, Flirt, Feminismus? Carolee Schneemanns Körperkunst und die Avantgarde. Berlin 2002, S. 189- 196.

 

[35] Interview der Autorin mit Daniel Urria am 12. Januar 2008.

 

[36] Zit. n. dem Text von Daniel Urria und Daniela Green zu dieser Videoarbeit unter: www.danielurria.com/text (15.01.2008).

 

[37] Vgl. Jaques Derrida: The Animal That Therefore I Am (More To Follow). Übers. v. David Willis. In: Critical Inquiry 28 (2), S. 369-418, hier S. 373.

 

[38] Vgl. Laurence Simmons: Shame, Levinas’s Dog, Derridas Cat (and some Fish). In: Simmons / Armstrong (wie Anm. 12), S. 27-42.

 

[39] Vgl. Mark Gisbourne: Zhang Huan. Palimpsest ‚Writing on the Body’. In: Kat. Zhang Huan. Hg. von der Galerie Volker Diehl. Berlin 2006, S. 5-10 und 45-48.

 

[40] Sally O’Reilly: Edwina Ashton, in: Frieze Magazine, 74, April 2003.

 

[41] Die Arbeit ist ausgestellt in On The Edge Of Love, (wie Anm. 21).

 

[42] Vgl. Jessica Ullrich / Friedrich Weltzien / Heike Fuhlbrügge (Hg.): Ich, das Tier. Tiere als Persönlichkeiten in der Kulturgeschichte. Berlin 2008.