19. Oktober 2003

Neues Altes

 

 

Robert Walser muss ein generöser Mensch gewesen sein. Er konnte Dinge einfach sein lassen. Wenn er beispielsweise kein Belegexemplar für ein in einer Zeitung erschienenes Prosastück erhielt, dann war ihm das ziemlich egal, vielleicht weil er schon zehn neue kleine Betrachtungen auf seinem Schreibtisch liegen hatte. Oder eher noch, weil er keine Lust hatte auf die Herrschaft des Büros. Außerdem bekommt man doch ungern Post von sich selbst. Und mit Sicherheit dachte er in keinem Augenblick an die Drecksarbeit seiner möglichen zukünftigen Herausgeber mit dem Anspruch des totalen Walser. Nichts anstrengender, als ganze Zeitungsbestände mehrerer Jahrzehnte nach einem Namenszug zu durchforsten.

Die ca. 40 Texte knappen Umfangs, die den letzten Stand an Neuentdeckungen von Robert Walsers Kurzprosa darstellen, verdanken sich der kollektiven Suche von Walser-Forschern, deren Freude über jeden neuen Fund man sich gut vorstellen kann. Da es sich bei den Texten um tatsächliche Publikationen handelt, stellt sich erst gar nicht die Frage, ob man das denn nun auch noch veröffentlichen musste. Das Schöne an Robert Walsers vermutlich ganz und gar unabsichtlicher Politik der Schusseligkeit und Dokumentationsscheu vor eigenen Texten ist also, dass der interessierte Leser oder gleich Fan vermutlich alle ein, zwei Jahre einen „neuen“ Walser präsentiert bekommen wird. Schneewittchen verlässt das Schloss. Martin und sein seltsamer Bruder.

Die hier unter dem eher verwirrenden Titel „Feuer“ abgedruckten Texte stammen aus den Jahren 1907-1933 und lassen keinen Zweifel daran, aus der Feder dieses kuriosen Autors geflossen zu sein. Nicht selten fühlt man sich ein bisschen auf den Arm genommen. Grund genug, mal wieder über den Maßstab des eigenen Lesens nachzudenken. Ist es Zufall, dass einer der Texte selbst „Der Maßstab“ überschrieben ist? Oder dass sich Walser über den „Schriftsteller“ Gedanken macht, dem er ein eigenes Prosastück widmet? Oder dass er Betrachtungen anstellt über den Ort, wo eben just seine kleinen Texte erscheinen, also die Zeitung? Das alles würde man heute so nicht mehr zu lesen bekommen. Zu naiv, würde man sagen, zu beschaulich, ja biedermeierlich, die Härten des Daseins vollständig ausgeblendet, die Souveränität der Betrachtung lediglich anillusioniert. Sicher, Walser steckt überall sein neugieriges Köpfchen herein, das Serielle ist beinah sein Markenzeichen, nicht nur als Textsorte (Prosastück), sondern auch als Strukturmerkmal der Texte selbst, entweder steht er selbst still, und die Welt fährt vorbei, oder umgekehrt sitzt er im Zug und zählt, manchmal auch ein bisschen albern, auf, was er sieht.

Aber alles steckt bei Walser in dem „wie“. Und da wiederum nicht nur, wie er sieht, sondern auch und vor allem wie er das Gesehene verknüpft. Das kann man dann vielleicht entdämonisierten Lautréamont nennen, und die Gunst der Begegnung, vermittelt durch das Auge des Dichters, erweist sich im Nachhinein als geglückt und – sowieso – schön. Zuletzt dies: Demnächst, irgendwo in der Schweiz, oder auch in Deutschland, das Rascheln im Wald: Hunderttausend Walser-Leser bewaffnet jeweils mit einem Zentner Zeitungen, auf der Suche nach ihrem Autor, von dem sie nicht lassen können.

 

Dieter Wenk

 

Robert Walser, Feuer, Unbekannte Prosa und Gedichte, hg. von Bernhard Echte, Frankfurt am Main 2003, 141 Seiten