18. Mai 2008

Modelle von Modellen oder beseelte Statuen

 

Aspekte des Skulpturenbegriffs bei Tillmann Terbuyken

 

von Holger Birkholz

 

Bei plastischen Arbeiten von ungegenständlicher Kunst zu sprechen, mag unseren heutigen Ohren nicht seltsam erscheinen, aber eigentlich ist es das. Denn die Objekte von Tillmann Terbuyken sind ja zunächst einmal das: Gegenstände. Was sie ungegenständlich macht ist, dass sie sich zunächst nicht festlegen lassen in irgendeiner symbolischen Verweisfunktion: Sie stellen keinen konkreten Gegenstand dar. Sie sind auf ihre Art Gegenstände ohne gegenständlich zu sein. Erst mit Blick auf die strukturellen Aspekte der Skulpturen stellt sich eine Verweisstruktur her, die allerdings nie einfach darstellend im Sinne von abbildend wird. Die Ungegenständlichkeit der Arbeiten, lenkt den Blick auf die Gegenständlichkeit der Objekte, ihre Dimensionen, ihre Gestalt und ihre Materialität. Es tauchen Grundformen auf: Kreise, Dreiecke oder Rechtecke. Doch sind diese Formen nicht mathematisch genau konstruiert, sondern weichen immer soweit von der Grundform ab, dass sie auf den ersten Blick als diese erscheinen, wobei sie jedoch im selben Moment bereits als Abweichung identifiziert werden. Diese Unebenheiten sind die Charakteristika, die sie unverwechselbar machen. Terbuykens Art seine Plastiken wie provisorisch erscheinen zu lassen, macht sie zu skizzenhaft in den Raum übersetzten Zeichnungen.

Die meisten von ihm verwendeten Materialien entstammen der Alltagswelt: Dachpappe, Dachlatten, Gips, Styropor oder Papier. Sie haben in der Kunstgeschichte ihre eigene Geschichte, die sich gegen die Verwendung der klassischen künstlerischen Werkstoffe der Skulptur, wie Bronze oder Marmor, wendet und demgegenüber eine Materialität bevorzugt, die aufgrund ihrer Alltäglichkeit näher am Betrachter, damit weniger pathetisch und weniger dauerhaft sind.

 

Protagonist der Ausstellung im Kunstverein Harburger Bahnhof ist eine bogenartige Skulptur, die dem Betrachter gleich beim Betreten der Ausstellung gegenübertritt. Sie erinnert in ihrer Form an ein Tor in Form eines Schlüsselloches. Terbuykens Tor ist allerdings kein Durchgang in einer Wand, die zwei Räume trennt, sondern es steht als eigenständige Skulptur frei im Raum. Die Rundung, mit der das Objekt nach oben abschließt tritt in Relation zum Kopf des Betrachters. So bekommt die Skulptur anthropomorphe Züge und entwickelt ein eigenes Leben. Die Selbstständigkeit des skulpturalen Objektes ist ein wichtiges Thema für den Künstler. Er selbst verweist auf das Standbild des Komturs aus Mozarts Oper „Don Giovanni“. Die Statue wird von der Rache dessen, den sie eigentlich nur darstellt und der selbst bereits tot ist, zum handelnden Werkzeug. Solche beseelten Skulpturen gehören zum festen Bestand der abendländischen Kulturgeschichte, sei es nun die Erfüllung von Pygmalions Wunsch, sein Bildwerk einer schönen Frau lebendig zu sehen, oder die jüdische Legende vom Rabbi Loew, der einem aus Lehm gebildeten Wesen mit göttlicher Hilfe Leben einhaucht. Die Frage nach dem Eigenleben der Skulptur spielt dabei eine wichtige Rolle. Abstrahiert aus Stein oder Lehm geformte Frauenfiguren werden in der Archäologie als Idole bezeichnet und als Gegenstände von Verehrung und Beschwörungen interpretiert. Dem wohnt eine psychologische Grundstruktur inne, mit der wir in sich geschlossene, in ihren Dimensionen und Formen menschlich wirkende Gegenstände in unserer Vorstellung eigenes Leben verleihen. Das ist nicht so weit entfernt von dem Bedürfnis Kunstwerken einen Inhalt zu geben und damit die gern gestellte Frage nach der Bedeutung eines Kunstwerkes zu beantworten. Damit sind zwei Grundfragen der Arbeitsweise Terbuykens angesprochen, zum einen die nach dem Eigenleben der Skulptur und darüber hinaus des künstlerischen Werkes, zum anderen die Belegung dieses Werkes mit Sinn und Inhalten durch den Betrachter.

Die aus Sperrholz gebaute Umrisslinie ist überall gleich stark und hat einen quadratischen Schnitt. Die Holzoberfläche ist mit einer Lasur rötlich braun getönt und gibt somit den Auftakt zum farbigen Dreiklang der Ausstellung mit dem Rot des Bogens, dem Gelb des Klappschattens und dem Blau einer Ausstellungswand.

 

Neben dem Bogen nimmt eine gelbe Form ihren Ausgang, die aus drei zusammenhängenden Elementen besteht. Sie sind mit Scharnieren verbunden und stehen im rechten Winkel zueinander: ein Balken am Boden, der daran anschließende steht wie eine Säule im Raum und der dritte schlägt eine Brücke zur Ausstellungswand. In dieser Lage referieren die drei Balken die Dimensionen des Raumes – Höhe, Breite und Tiefe. Gleichzeitig lösen sie sich aber von dieser Verweisfunktion durch die explizite gelbe Farbigkeit der Elemente und insbesondere die Scharniere, mit denen es möglich ist, die Winkel zu verändern oder gar das Objekt als langen Balken am Boden auszustrecken. Dieser Aspekt der potentiellen Beweglichkeit gibt der Skulptur wesenhafte Züge, wie einer Gliederpuppe. Damit bewegen wir uns wieder im Bereich einer beseelten Skulptur: Pinocchio. Vergleichbare Werke finden sich bei Terbuyken bereits vorher unter dem Titel „Klappschatten“. Sie formalisieren das Gleiten eines Schattens über verschiedene Oberflächen.

Das Objekt in der Ausstellung trägt den Titel „Minusschatten“. Dieser Titel beschreibt nicht nur was das Objekt selbst in seiner sonnengelben Farbigkeit anzeigt, es leuchtet statt sich als Schatten im Dunkel zu verlieren. Es verweist vielmehr sprachlich auf die Mitte der sechziger Jahre entstandenen Minus-Objekte Michelangelo Pistolettos. Auch die etwas schwer zu bestimmende Materialität der Arbeit passt zu Pistolettos skulpturalem Ansatz, der ungewöhnliche Materialien verwendete und so die Bestimmung einer künstlerisch individuellen Handschrift über die Materialverarbeitung vermeiden wollte. Der Minusschatten tendiert in seiner Oberfläche dazu Materialität aufzulösen. Das erreicht Terbuyken nicht nur über das leuchtende Gelb, sondern auch durch eine Art Aufweichung der Konturen mit gerundeten Kanten und einer unter dem Bezugsstoff leicht gepolsterten Oberfläche. Die Skulptur entwickelt gerade aufgrund ihrer Farbigkeit eine hohe Präsenz im Raum, erzählt andererseits aber von ihrer Herkunft aus dem Bereich der immateriellen Schatten.

 

Dieser Verweis wird noch deutlicher bei der benachbarten Skulptur, die aus zwei über Eck aufgestellten Seiten besteht. Die eine stellt mit ihrer Stärke eine Wand dar, einen eigenen skulpturalen Körper, demgegenüber die andere als schmales Abbild, fast möchte man sagen: als Tafelbild erscheint. Somit handelt es sich bei diesem Doppeltor um zwei Erscheinungsweisen einer Gestaltidee. Der Einschnitt in die Fläche folgt dem gleichen Prinzip eines keilförmigen, spitz zulaufenden Dreiecks. Die Dimensionen der Skulptur stehen in einem eigenartigen Verhältnis zu ihrem Betrachter: Mit zwei Metern Höhe ist die Wand größer als er, wohingegen die Einschnitte mit ihren 90 Zentimetern dem üblichen erwachsenen Betrachter nur für einen imaginären Durchgang reichen. Die beiden Seiten des Objektes stellen in gewisser Weise die Frage nach ihrem Verhältnis zueinander, oder: Ist die schmale Seite vielleicht nur das Abbild der dickeren? Der Körper, und das gilt generell für den Körper der Skulptur, besitzt einen höheren Realitätsgrad als das zweidimensionale Zeichen, die Realität des Tafelbildes. Damit ist eine der verbittertsten Zwistigkeiten der Kunstgeschichte angesprochen. Im Paragonestreit des 16. Jahrhundert entzweiten sich Maler und Bildhauer darüber, welches künstlerische Medium besser geeignet sei, die Wirklichkeit abzubilden.

 

Ein Element der Ausstellung, das vielleicht mit einer der üblichen Ausstellungswände verwechselt werden kann, ist eine weiße Wand mit einer oben angesetzten Schräge, die sich architektonisch und funktional nicht erklärt, die ihr aber ein Gesicht gibt, indem sie sich dem Betrachter zuwendet. Die Schräge ist eine Art architektonisches Fragment, vergleichbar einer Stuckkehle oder einem Gewölbeansatz. Die Wand trägt entgegen ihrer ansonsten üblichen Funktion in Ausstellungsräumen kein Bild oder Objekt. Als weiße Fläche aber scheint sie förmlich danach zu verlangen mit Bildern belegt zu werden. Sie regt an zur Auseinandersetzung mit den ‚Bedingungen der Möglichkeit von‘ Bildern auf weißen Wänden. In dieser Form ist sie ein Reflexionsmodell und gleichzeitig eigenständig gebaute Skulptur, die in den Ausstellungsraum gebaut wurde. Nun trifft das zugegebenermaßen heute für viele Wände in Ausstellungen zu. Den Anforderungen an Raumgestalt und Hängefläche entsprechend werden Wände gebaut und wieder demontiert. Terbuyken zeigt in seiner Ausstellung eine Wand als Wand. Dass diese Wand einen anderen Stellenwert besitzt, zeigt sich auch darin, dass die sie nicht auf den eigenartigen Stelzen schwebt, wie die üblichen Ausstellungswände dieses Hauses, sondern wie alle anderen Skulpturen von Terbuyken ohne Sockel auf dem Boden steht

 

Terbuykens Skulpturen führen eine Existenz zwischen Architektur, Skizze und beweglichem Objekt. In übertragenem Sinn tendieren sie dazu, sich in Bewegung zu setzen, sobald sich der Betrachter ihnen nähert. Der Anschein architektonischer Strenge löst sich auf, indem die provisorische Konstruktion sichtbar wird. Die Aufteilung der Skulpturen in Elemente, die in ihrer Lage zueinander beweglich sind, schafft einen weiteren Aspekt der dazu beiträgt, den Arbeiten ein Eigenleben zuzuschreiben. Die Loslösung der Skulpturen von ihrem Schöpfer und die Erfahrungen, die sie nach der Befreiung von ihm machen, werden bei Terbuyken zu einer Form der Erzählung, die sich mit ihrer Erscheinung als Gegenstände verbindet.

 

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Tillmann Terbuykens Arbeitsweise ist gekennzeichnet durch eine angenehme Fahrigkeit - ein intuitiver, aber dann sehr bewusster Zugriff auf Vorbilder, Farben und Formen, ohne den in der Regel an den Begriff der Intuition gekoppelten Anspruch auf Genialität. Diese künstlerische Position verleiht der Ausstellungsinstallation Leichtigkeit und spiegelt sich in der Beschaffenheit der Exponate selbst, die, mit eben dieser intuitiven Präzision gefertigt, stets unperfekt bleiben. Ein Terbuyken Kreis ist nicht mathematisch rund, ein Leinwand-Objekt nicht vollendet statisch, alles bleibt als Form lebendig und lässt sich imaginär wie real in Bewegung versetzen. Uns begegnet hier nicht – wie Don Giovanni in der durch Terbuyken gerne als Inspiration zitierten gleichnamigen Mozart-Oper – eine Statue, die von ihrem Sockel hinabsteigt, sondern gleich ein ganzes Statuen-Ensemble.

 

Im Katalog lebt die Ausstellung nun fort und zwar nicht nur aufgrund fotografischer Dokumentation und Textbeiträge, sondern weil er selbst die Form einer Terbuyken Skulptur angenommen hat: Sie halten einen „Klappschatten“ in ihren Händen, einen „Buchschatten“, genauer gesagt.

Beide Katalogautoren nähern sich der Kunst Terbuykens in unterschiedlicher Form. Während Holger Birkholz die Skulpturen in Rückkopplung an andere Werke der Kunst- und Literaturgeschichte betrachtet und ihnen dabei ein immanentes Eigenleben bescheinigt, widmet sich Ursula Panhans-Bühler dem Klang der Gesamtkomposition aus Ausstellungsraum, Malerei und Skulptur, den sie im direkten Gespräch als eine Symphonie der Proportionen beschreibt.

 

Tillmann Terbuyken – Schatten und Statuen, Textem Verlag 2008

Inlet 32 Seiten plus Umschlag 14,5 x 18,5 cm, in aufwendiger Pappbroschur!

ISBN 978-3-938801-49-9, 14 Seiten mit farbigen Abb., Preis 22 Euro, März 2008

 

Bestellen unter: post@textem.de