20. April 2008

Hyperpragmatismus

 

Der angebliche Ruf Chinas hat unmittelbar nach Erscheinen dieses Buchs im Februar 2008 einen Dämpfer bekommen. Es ist, als ob der Lockruf – jeder, einschließlich der Ausländer, ist seines Glückes Schmied in China – eine scharfe Wendung ins Apotropäische genommen hätte. Jetzt heißt es eher, Unheil vom Ruf Chinas in der Welt abzuhalten. Die Tibetfrage. Und wie war das noch mit der Verknüpfung der Vergabe der Olympischen Spiele an China im Jahre 2001 an das chinesische Versprechen, etwas in Sachen Menschenrechte zu unternehmen? In der Hoffnung, dass sich China keinen Gesichtsverlust leisten könne, wenn es sich erst mal auf das Versprechen eingelassen hätte. Aber vielleicht ist der Titel Ingo Niermanns auch nicht ganz so ernst gemeint? Nur die wenigsten werden als Land erobernde Cowboys in China einfallen. Ingo Niermann hat in diesem Buch Protokolle auf der Grundlage von Interviews versammelt, die Einblicke in dieses immer noch sehr rätselhafte Land verschaffen. Amerikaner, Europäer, Afrikaner, die auf eigene Faust oder als Partner von Unternehmen nach China gegangen sind. Oder auch Chinesen selbst, die von ihren eigenen Erfahrungen im Lande berichten, wie etwa der documenta-Teilnehmer Ai Weiwei. „China ruft dich“ ist fast ein Langzeitprojekt, denn Niermann war nicht nur einmal vor Ort (Peking), im Jahre 2005, sondern suchte die Interviewten zwei Jahre später noch einmal auf, um zu schauen, wie weit es die Abenteurer, Glücksuchenden und Helden der Arbeit gebracht haben würden. Am Ende muss es wohl heißen, dass China nicht jedermanns Sache ist. Nichts für empfindsame Seelen. Einen Rückzug in die Innerlichkeit kann sich kein Ausländer leisten, irgendwoher muss das Geld ja kommen. Wer hier nichts unternimmt, geht vor die Hunde. Und es braucht Jahre für Einzelgänger, um zu durchschauen, wie der Hase läuft. In einem der Interviews heißt es, man brauche für alles einen „Alexander“, also jemanden, der einem Kontakte verschafft, ein gutes Wort für einen einlegt, vielleicht auch einfach nur als Lautstärke dämpfender Übersetzer agiert, weil die konfuzianische Ruhe über alles geht. Als politisch korrekt Denkender und partout auf seinem Recht Bestehender ist man hier fehl am Platz. Kritik am Staat? Absolut unerwünscht. Gefährlich. Manche der Protokolle lesen sich wie Krimis. Die Interviewten tauchen 2007 nicht mehr auf, sind entweder tot oder von der Bildfläche verschwunden, Wirtschaftsflüchtlinge. Jedes der von Niermann präsentierten Schicksale ist einzigartig, die Größenordnungen sind sehr unterschiedlich, einfache Fußballer, Finanzhaie, vom Lauf der Geschichte Überraschte, die sich im Osten wiederfinden, während sonst alle nach dem Mauerfall nach Westen gehen. Das lange Interview mit Ai Weiwei hätte man auch sehr schön im „Freund“ bringen können, wenn es ihn denn noch gäbe. Und vielleicht stimmt es ja wirklich, was Ai Weiwei über sein Land sagt, dass nämlich das Schöne daran sei: „Leute schaffen sich ihren eigenen Weg. In dem Sinne ist China heute sehr liberal.“ Ob man aber bis nach China reisen muss, um seinen eigenen Weg zu finden?

 

Dieter Wenk (4.08)

 

Ingo Niermann, China ruft dich. Protokolle. Mit Fotografien von Antje Majewski, Berlin 2008 (Rogner & Bernhard), 274 Seiten

 

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