24. März 2008

Lockruf des Absackers

 

“Eine Liebesgeschichte” steht im Untertitel des neuen Romans von Tim Staffel, dem 1965 in Kassel geborenen Schriftsteller und Theaterregisseur mit Kultstatus. Es ist eine Liebesgeschichte zwischen zwei Männern, die von Januar bis Mai dauert und schließlich in eine Hassgeschichte umschlägt.

Die Hauptfigur Muhammed sammelt zusammen mit seinem Vorgesetzten Rupert auf Sylt mit einem Multicar unter anderem Kot ein. Es ist nicht das bekannte, mondäne Inselleben, das hier beschrieben wird. Man erkennt Sylt nicht wieder. Muhammeds Familie besitzt das Restaurant Merhaba, er selbst besucht nach Feierabend die Abendschule, weil er später Landschaftsarchitekt werden will. Noch nie hat Muhammed, dessen Eltern zurück in die anatolische Heimat gegangen sind, die Insel verlassen. Dieser Umstand wirkt “etwas" konstruiert. Eines Tages entdeckt Muhammed einen jungen Mann mit einer über den Kopf gezogenen Plastiktüte auf einer Bank sitzen: Jesús, der Muhammed fortan das Gefühl gibt, man müsse ihn retten. Ständig denkt Jesús an den Tod, die Erlösung, und betäubt seine Depressionen und Ängste mit Kiffen und seltsamen Aktionen. Die beiden beginnen ein nicht nur sexuelles Verhältnis, in dessen Verlauf Muhammed seinen Job verliert, die Abendschule sausen lässt, sich mit seiner Familie verkracht und zu guter Letzt zum Ausbruch aus seinem beschränkten Lebensumfeld gedrängt wird. Auf der letzten Seite des Buches, das in drei Abschnitten (Januar, Februar und Mai) eingeteilt ist, verlässt Muhammed Sylt und erreicht das Festland. Metapher, ick hör dir trapsen!

Staffels knappe Hauptsatzprosa zeichnet Szenen, die kaum begonnen schon wieder beendet sind. Die schnellen Bildfolgen katapultieren den Leser in kürzester Zeit an den Ausgang der Geschichte. Für die fast 140 Seiten habe ich nur zwei kurzweilige Stunden gebraucht. Nachteil dieser Erzählweise: Nur über die Handlungen der Figuren gewährt der Autor Einsicht ins Innere der Charaktere. Was wird davon auf längere Zeit im Hirn haften bleiben?

Doch es erstaunt immer wieder, wie einfach der Text daherkommt, wie mühelos er schwebt und wirkt. Witz und Ironie sucht man im Roman aber vergebens. Die Nebenfiguren, wenn sie nur kurz auftreten, wirken extrem austauschbar. Aber der Text fliegt einem zu. Man muss sich nicht sperren: Das ist schon ein besonderes Lesegefühl, wie der Stoff durch den Leser hindurchzieht – und in welchem Tempo!

Der kurze Satzbau lässt den Leser aber auch nicht gerade tief in das Geschehen eintauchen. Es rauscht alles an einem vorbei. Ohne große emotionale Anteilnahme. Man hat keine große Bindung an die Figuren, vielleicht sind sie sich selbst egal. Das ist natürlich auch ein Teil der Botschaft.

Am Ende fragt man sich jedoch, was soll werden mit Jesús, dem Anti-Jesus, dem Lügner, der unter Bulimie leidet, nicht schwimmen kann und klaut. Ist er der eigentliche Er- und Auslöser, der Muhammed seine Angst vor dem Festland überwinden lässt?

Das Buch bereitet keine türkenspezifische Problematik auf, die sich im journalistischen Tagesgeschäft gut ausschlachten ließe. Das Thema "Integration" würde in diesem Buch keine kleinere Rolle spielen, wenn Muhammed deutsche Eltern hätte, glaube ich. Hier geht es um einen jungen Mann, der auf der Suche nach anderen Möglichkeiten für sein Leben ist. Ein Unterfangen, das in allen Ländern dieser Erde immer aktuell ist. Für alle. Dass dies nicht zu einem Völkerverständigungsproblem hochstilisiert wird, ist eine große Stärke des Buches. Bemerkenswert ist auch, dass der Text ohne nerviges Szene-Gequatsche und undurchdrungenes Coolness-Getue auskommt.

Staffel ist eine sehr rasante Co-Abhängigen-Story geglückt, die vielleicht nicht gerade für die intellektuellen Leser und den Sprachgourmet gedacht ist, sondern für junge Leute, die sich in diesem Buch mit ihren Fluchtversuchen sowie ihren Nähe- und Abgrenzungsproblemen wiederfinden werden und sich damit selbst auf die Schliche kommen können. Muss ja auch mal sein. Ein Buch mit durchaus therapeutischem Wert.

 

Carsten Klook

 

Tim Staffel: Jesús und Muhammed, Transit Verlag 2008

 

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