25. Februar 2008

Eine Literatur des als „Aub“

 

Die These dieses Romans ist nicht neu, aber sie ist unmissverständlich: Die Position und Gesinnung von „schönen Seelen“ ist ohne Belang: Wer den ersten Stein wirft, hat nicht alles gesehen und pflegt ein seltsam abstraktes anthropologisches Ideal. Deshalb nennt der Ich-Erzähler diesen Roman auch gleich zu Beginn eine „richtige moralische Erzählung“. Der moralische Kern dieses Buchs? Dass nichts dem Menschen fremd sei. Es gehöre alles dazu, das Allerschönste und das Allerschlimmste. Alles sei möglich. Und die Moral von der Geschichte? Tat und Gerichtsbarkeit finden nicht an ein und demselben Tag statt, und die Paralleluniversen bleiben, wie sehr man auch immer die „Tat“ einholen möchte, getrennt.

 

„Les Bienveillantes“, übersetzt mit „Die Wohlgesinnten“, ist aber natürlich nicht nur ein recht üppiger Thesenroman von 900 eng bedruckten Seiten (in der deutschen Übersetzung knapp 1400 Seiten), sondern auch ein Familien-, ein Historien, ein Kriegs-, ein Kriminal- und ein mythologischer Roman und vermutlich noch einiges mehr. Der 1967 in New York geborene Jonathan Littell, der diesen Roman auf französisch geschrieben hat, legt, von ihm unkommentiert, die fiktiven Memoiren des 1913 geborenen Maximilien Aue vor, der sich in diesem umfangreichen Bericht Rechenschaft vor sich selbst abzulegen versucht: „Menschliche Brüder [Frères humains], lasst mich Euch erzählen, wie das passiert ist.“ Der lakonische Ton, der das ganze Buch durchzieht, ist nicht ganz zufällig gewählt. Denn derjenige, der hier spricht, ist ein Karrierist in der Zeit des Nationalsozialismus, der als SS-Mann in der Zeit zwischen 1936 bis 1945 so ziemlich alles gesehen hat, was die Einsätze dieses Staates so mit sich brachten. Aue ist promovierter Jurist, dessen Vater, der 1929 von der Bildfläche verschwindet, ein alter früher Frontkämpfer der Nazis gewesen sein muss und den der Sohn abgöttisch liebt. Dieser macht seine Mutter, eine Französin, dafür verantwortlich, dass der Vater verschwand. Blinder Hass liegt zwischen Mutter und Sohn. Und dann gibt es noch Una, die Zwillingsschwester Maximiliens, wirklich die „Einzige“, auf die der Bruder höchst unglücklich libidinös fixiert ist. Kein Wunder, dass sich Aue, als sich die Schwester für immer entzieht, als sie heiratet, verstärkt nach Männern umsieht. Durch seinen Studienkameraden Thomas Hauser kommt Aue zum SD (Sicherheitsdienst), einer Unterabteilung der SS. Im Gegensatz zu Aue ist Hauser ein SS-Mann, wie man ihn sich vorstellt: geleckt, gerissen, zynisch, das „Führerprinzip“ absolut verinnerlicht habend, gestählt und völlig schmerzfrei, hedonistisch, also nicht intellektuell, jemand, der über Leichen geht. Aue dagegen denkt zuviel, jedenfalls für einen SS-Mann, was seiner Karriere zwar ein wenig schadet, die aber dennoch vorangeht aufgrund von Protektion von fast allerhöchster Stelle.

 

Bevor Aue den Feldzug gegen die UdSSR mitmacht, hat er Gelegenheit, sich für einen längeren Einsatz in Frankreich zu qualifizieren, was ihm aufgrund seiner für die Partei zu objektivistischen Sicht nicht gelingt. Gleichwohl lernt er in Paris ein paar wichtige Leute kennen wie die von der rechts gerichteten „Action française“, also etwa Robert Brasillach, der 1945 als Kollaborateur hingerichtet wurde, oder Charles Maurras. 1941 heißt es für Aue dann, die Koffer für Russland zu packen. Mit einem Frontbericht setzt der eigentliche Roman ein, nach einer 20-seitigen einführenden Ansprache an den Leser. Der Erzähler schaltet immer wieder Episoden aus der vor allem familiären Vergangenheit dazwischen. Und wenn etwas an diesem Roman schwer verdaulich ist, dann nicht so sehr die Behauptung, dass „es“ oder „das“ (siehe oben den ersten Satz des Romans) letztlich jeden hätte treffen können (und zwar auf Täter- und Opferseite), sondern die Geschichte der Familie Aue, die melodramatisch (erzählerisch aber gleichwohl immer auf demselben lakonischen Level) aufs Äußerste ausgereizt wird und das Drama der großen Geschichte auf eine überschaubare Untereinheit projiziert. Das kleine Familienabbild der Katastrophe im Großen kann also nur in gefühlsextremistischen Zügen präsentiert werden. Es weht hier der fürchterlich kompromisslose Wind der Nibelungen-Sage. Der physiognomische Wahnsinn der Stummfilmzeit steht Pate. Gedämpft wird die schlimme Beziehung zwischen Mutter und Sohn und die heillose zwischen Bruder und Schwester beim Leser allenfalls durch seine unwillkürliche Erinnerung an eine andere romaneske Zwillingsgeschichte aus dieser Zeit, nämlich das ambitionierte Liebes-Projekt von Ulrich und Agathe aus Musils „Mann ohne Eigenschaften“. Was hier jedoch wirklich versucht wird, muss sich bei Aue lediglich in seiner Fantasie abspielen, mit deren Zwanghaftigkeit der Leser ausgiebig in Kenntnis gesetzt wird.

 

Die Familienstory ist wie gesagt kein reines l’art pour l’art. Im Mittelpunkt des Romans steht ein Geschehen, das bis zum Ende nicht aufgeklärt wird, von dem man aber annehmen darf, dass es als Muttermord den Schlüssel zu den Ereignissen insgesamt liefert, sowohl auf Familienebene als auch auf historischer Ebene. Vermittelt werden die beiden Bereiche durch ein mythologisches Muster, nämlich die Geschichte von Orest, der seine Mutter umbrachte und anschließend von den Erinnyen verfolgt wurde; erst das Eingreifen der Göttin Athene setzte dem ein Ende. Von diesem unterstellten Mord des Helden kann alles Mögliche abgeleitet werden: Dessen Verdrängung durch Aue, der sich durch die schlimme Tat auf seltsame Art befreit, die dadurch einsetzende Spaltung im Bewusstsein Aues, der die bis dahin recht komplex verlaufene Beziehung nicht nur zur Familie, sondern auch zur Welt im ganzen mit all den Zweifeln, die er immer wieder äußert, radikal vereinfacht und ganze Bereiche seiner Innenwelt nicht mehr zur Kenntnis nimmt. In diesem Moment wird der Roman zum (negativen) Bildungsroman. Aue wählt in dieser Situation den Weg des schlimmst Möglichen, der sich bereits vorher als Option angekündigt hatte: Ein bisschen wie in „Wilhelm Meister“ gibt es da eine seltsame Loge, die die Fäden knüpft und den Weg für Aue bereitet. Es ist der Einsatz in den Konzentrationslagern, und Aue sieht sich integriert in den persönlichen Stab des „Reichsführers SS“, Heinrich Himmler. Schon vorher hatte Aue den Obersturmbannführer Adolf Eichmann kennen gelernt, später wird er auch für den „Reichsminister“ Albert Speer arbeiten, an deren unterschiedlichen Interessen und Forderungen („Endlösung“ versus Maximierung des Arbeitseinsatzes von Juden und Gefangenen) Aue fast zerbricht. Der Protagonist besucht immer wieder verschiedene „KL“, wo er versucht, vergeblich, die dort herrschende Korruption und egoistische Moral zu bekämpfen.

 

Die „Judenfrage“ selbst ist für Aue kein Thema eigener Reflektion, obwohl darüber auch immer wieder diskutiert wird. Die begrenzte Haltung des Helden wird nie aufgebrochen, weder von dem Jahre später memoiren-schreibenden Aue selbst, noch von Littell, der als Autor in diesem Roman keine Stimme hat. Es werden alle Übel des Krieges genannt, vieles haargenau beschrieben, was man nicht glauben mag, was aber wirklich so passiert ist, und bis Aue an dem genannten Punkt sich selbst bestraft als Mitwirkender an der KZ-Front, ist der Protagonist längst als Romanfigur etabliert, mit der man sich durchaus streckenweise identifizieren kann. Ein bisschen grotesker Slapstick im mythologischen Gewand tut sich auf, als die beiden Kriminalkommissare Clemens (dessen Name an die „Eumeniden“, die Gütigen, Wohlwollenden, erinnert) und Weser erscheinen und nachfragen, was denn eigentlich im Süden Frankreichs passiert sei, als Aue seine Mutter besuchte, die dann irgendwann erdrosselt von Gendarmen aufgefunden wurde. Wo immer auch der Held sich aufhält, ob in Ungarn oder in Pommern oder zuletzt in den letzten Kriegstagen in Berlin in der U-Bahn (die Erinnyen, euphemistisch Eumeniden genannt, waren unterirdische Rachegöttinnen), immer wieder wollen die beiden Polizisten wissen, was „da“ geschah, und immer wieder muss Aue passen, weil er nichts weiß (oder nichts wissen will). In Aue wird also die Engführung vorgenommen zwischen Individuum und Gesellschaft, die beide ihre Gründe hatten, an das Schwärzeste ihrer eigenen Geschichte nicht erinnert zu werden. In beiden Fällen geht es um die Verweigerung von Anerkennung, und in beiden Fällen ist die Reaktion exzessiv. Ist sie aber auch repräsentativ? Für Aue gibt es kein Sonderkapitel „deutsche Katastrophe“, was sicherlich nicht heißen soll, das Schicksal blind zu akzeptieren. Nur ist der Lauf selbst nicht vollkommen planbar. Das geschichtliche Urteil ist ein Luxusartikel, den sich nicht jeder leisten kann. Jedenfalls nicht der, der in der Bewegung drinsteckt. Wie weit geht die Selbstabgleichung? Wie sehr ist man involviert, ohne es zu merken? Nachträglichkeit ist keine besonders einnehmende Position. „Wir“ wissen es heute nicht besser. Es sei denn, andere wissen später noch besser über uns Bescheid, was ein bisschen deprimierend ist. Dieser Roman ist erzählerisch insofern ein wenig forciert, als er nahezu alle nationalsozialistischen Schaltstellen vom Protagonisten persönlich abklopfen lässt (einschließlich einer historisch nicht beglaubigten Hitler-Szene als Allegorie der Selbstzerstörung oder auch als „acte gratuit“, in dem sich die Immoralität des Augenblicks bezeugt) und ein bisschen zu viel an den Nerven des Lesers sägt durch die Plumpheit des Familiendramas. Aber er lässt nachdenken über die Unmöglichkeit, den letzten Punkt zu setzen.

 

Dieter Wenk (11-06)

 

Jonathan Littell, Die Wohlgesinnten. Roman. Aus dem Französischen von Hainer Kober. Berlin Verlag, Berlin 2008, 1388 S., 36 €

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Jonathan Littell, Les Bienveillantes. Roman, Gallimard, Paris 2006, 905 p., 25 €