21. Oktober 2007

Nintendo-Welt

 

Dass Videospiele auch Kultur oder gar Kunst seien, ist mittlerweile ein Allgemeinplatz; es gibt entsprechende Bücher, Museen, Studiengänge. Der Vergleich mit der Welt des Films scheint nahe liegend, gerne wird auf Umsätze und Produktionskosten verwiesen, die inzwischen »Hollywood« eingeholt hätten. In die Sphäre der Hochkultur schaffen es Computerspiele dennoch selten, und wenn, dann eher indirekt, etwa als Experiment von Künstlern, die sich vorhandener Spiele bedienen, um sie zu verfremden. Ohne diese Veredelung, außerhalb der Medienkunst-Ecke sind die Erzeugnisse der Industrie für das Feuilleton derweil höchstens als Phänomen interessant (1), bieten sie doch, abgesehen von einigen wenigen Nischenprodukten (2), kaum die inhaltliche Tiefe, die ihnen als Werk zu kultureller Relevanz verhelfen könnte.

Das mag beim Film heute oft nicht viel anders sein, allerdings kann er auf eine glorreiche Vergangenheit blicken, in der zumindest zeitweise industrielle Mainstream-Produktion und künstlerische Avantgarde tatsächlich ein und dasselbe waren. Speziell im japanischen Kino der 50er und 60er, als Filme von Yasujiro Ozu und anderen ein Massenpublikum anzogen, konnte sich in dieser Gleichzeitigkeit eine ganz eigene Kultur entwickeln. Erst mit den Mitteln der großen Studioproduktion wurden Werke möglich, die in ihrer formalen Perfektion und ihrem radikal modernen Minimalismus noch heute verstörend wirken - und doch zugleich als sentimentale Heimatfilme funktionieren, ohne dass darin ein Widerspruch läge.

 

»Animal Crossing - Wild World« ist ein Lebenssimulations-Spiel für das DS, eine tragbare Spielkonsole von Nintendo, die mit ihrem Aufklapp-Doppelbildschirm an die Telespiele der frühen 80er erinnert. Mit »intuitiver« Touchscreen-Schnittstelle und vor allem neuen Spielkonzepten soll das DS mehr Gelegenheits- beziehungsweise Nichtspieler und insbesondere ein weibliches Publikum ansprechen - was auch mit großem Erfolg gelingt. Auch »Animal Crossing - Wild World« ist in diesem Zusammenhang zu sehen, es lag - zumindest in Japan - lange auf den vorderen Plätzen der Charts, obwohl ihm wesentliche Merkmale eines klassischen Videospiels fehlen.

 

Bei der Ankunft des kleinen Avatars in der Animal Crossing-Welt präsentiert diese sich als geradezu prototypisches Simulations-Universum: In einer parkähnlichen 3-D-Landschaft mit lockerem Baumbestand liegen verstreut einige niedliche Häuschen und öffentliche Gebäude, in der Mitte gluckert ein Bächlein. Rundherum bilden Abhänge die Begrenzung der Spielfläche, dahinter lässt sich eine sanfte Hügellandschaft erahnen. Nach vorne, zum Betrachter hin, hindert das Meer die Figuren daran wegzulaufen. Auf dem zweiten Bildschirm ziehen Wolken über den blauen Himmel. Dank Details wie der Größe der Blätter an den Bäumen und der starken Weitwinkelperspektive scheint alles nur wenige Zentimeter groß und sehr nah. In entfernte Naturgeräusche mischt sich ein äußerst dezenter Soundtrack aus rhythmischem Klicken, schwebenden Akkordeonklängen und Melodiefragmenten vom Xylofon.

 

Auch der Spielverlauf mutet zunächst wie eine klassische Aufbau-Simulation an. Ich darf mit meiner Figur, nachdem ich Geschlecht und Namen gewählt habe, in ein Haus einziehen, muss mich dafür aber direkt mal verschulden. Zufällig hat der Besitzer, ein Waschbär namens Tom Nook, auch gleich einen Job für mich: Für 1000 Bells soll ich Blumen besorgen und um seinen Laden herum pflanzen, auf dass mehr Kundschaft angelockt werde. Na fein, hier soll also Marktwirtschaft geübt werden. Wahrscheinlich kann ich mich hocharbeiten, das Haus abbezahlen, selbst ein Geschäft eröffnen und dann die anderen ausbeuten. Oder was? Einen Termin gibt es für das Blumenpflanzen allerdings erst einmal nicht, außerdem locken noch andere Geldquellen: Anstatt zu jobben und auf meinen Lohn zu warten, kann ich auch einfach die dicken Aprikosen von den Bäumen schütteln und sie Tom Nook verkaufen. Der Erlös von ein paar Früchten reicht schon, um im Laden eine Angel und ein Polohemd zu kaufen. Natürlich könnte man davon auch seine Schulden abbezahlen - muss man aber nicht. Es hat keine schlimmen Folgen, den Kredit niemals zu tilgen. Wenn ich es trotzdem tue, dann eigentlich nur aus schlechtem Gewissen oder falls ich ein größeres Haus möchte - was aber nicht der Fall ist, ich bin zufrieden mit meiner Hütte.

Die Ökonomie stellt also keine echte Herausforderung dar, zumal es auch wenig nützt, Reichtum anzuhäufen. Schnell ist die Bude voll mit teuren Möbeln und anderem Krempel, der eigentlich nur im Weg steht und obendrein auch noch Ungeziefer anzieht. (Allerdings huschen die Kakerlaken so liebevoll animiert durchs Haus, dass dieser Anblick beziehungsweise ihr unheimliches Rascheln schon die Mühe wert war.) Überhaupt scheint das Leben in dieser Welt nicht sonderlich anstrengend oder hektisch. Anders als etwa beim Tamagochi, das ja durchaus verhungern oder an seinen eigenen Exkrementen ersticken kann, spielen Stoffwechsel, Reproduktion oder sonstiger Ernst des Lebens hier keine Rolle. Keine Feinde, keine Naturkatastrophen, kein Hunger oder wie auch immer gearteter Mangel bedroht den Spieler. Das Schlimmste, was einem widerfahren kann, ist ein Mückenstich oder mal ein harmloser Schnupfen.

 

Wenn es also keine Gefahren zu bestehen und keinen Unterhalt zu bestreiten gibt, was bleibt sonst noch zu tun, außer einem Waschbären Aprikosen und am Strand gefundene Muscheln zu verkaufen? Da wären noch die anderen Bewohner: ebenfalls sprechende Tier-Charaktere, die scheinbar ziellos durch die Gegend schlendern. Trifft man auf eines dieser Viecher, entspinnt sich ein kurzer, meist belangloser Dialog, und schon ziehen sie weiter. Ihre Sprüche sind freundlich, manchmal zynisch, etwas wunderlich, gelegentlich auch unverschämt. Es sind nette, leutselige, aber leicht reizbare Spießer, die unter anderem eine »Happy Room Academy« gegründet haben. Die »Happy Room Academy« verschickt Briefe, in denen die Wohnungseinrichtung bewertet wird, und zwar in geradezu beleidigender Offenheit (»Wie hältst du es nur in dieser Müllkippe aus?«). Ihr Wohlwollen gewinnt nur, wer sein Haus »geschmackvoll« einrichtet und die richtige Mischung aus »klassisch« (sprich: Biedermeier) und »modern« (sprich: 80er, viel Achteckiges) hinbekommt. Gelegentlich gibt es Dinge für die Bewohner zu erledigen, zum Beispiel Medizin besorgen, wenn sie krank sind, oder eine Woche lang als Vertretung jeden Abend von acht bis zehn den Leuchtturm einschalten. Das war's dann allerdings auch fast schon. Man kann ihnen Briefe schreiben, mit ihnen Partys feiern, sich bis zu einem gewissen Grad mit ihnen anfreunden. Dennoch strahlen diese anthropomorphen Wesen bei allem einen eigenartigen Gleichmut aus, sie scheinen zu wissen, dass sie nur Spielfiguren, Teil eines flüchtigen Programms sind, und geben sich keine Mühe, allzu menschlich zu wirken. Es ergeben sich keine längeren, komplexeren Beziehungen, und auch das soziale Gefüge nimmt keine besondere Entwicklung, geschweige denn eine, die sich beeinflussen ließe. (3)

 

Als weitere Möglichkeit der Beschäftigung ist an einigen Stellen Kreativität gefragt. Beispielsweise steht im Rathaus ein Glockenspiel zum Komponieren mit einer Art rudimentärem Sequencer bereit; die damit arrangierte Melodie spielt die Turmuhr dann zu jeder vollen Stunde als tiefen, langsamen Gong. Diese wie auch die anderen Gelegenheiten, sich gestalterisch zu betätigen (Sternzeichen definieren, Stoffmuster für eigene Kleider entwerfen) sind aber so beschränkt und umständlich, dass sie kaum als Hauptinhalt des Spiels gelten können.

 

Worum geht es dann also bei »Animal Crossing - Wild World«? Allem Anschein nach um nichts Besonderes. Es gibt kein bestimmtes Ziel, nur eine Ansammlung verschiedener Aktivitäten, die für sich betrachtet fast schon läppisch wirken. Das Spiel besteht ausschließlich aus Nebensächlichkeiten, leerem Raum, fein nuancierten Stimmungen und immer wieder kleinen Fragestellungen. Hat man zum Beispiel. einen Schmetterling gefangen, steht man vor der Wahl

 

- ihn freizulassen

- ihn zu verkaufen

- ihn dem Museum zu schenken.

 

Keine dieser Optionen bedeutet einen Fehler oder hat irgendwelche langfristigen Folgen. Freigelassen flattert er wieder hübsch herum und erfreut das Auge, verkauft bringt er etwas Geld, mit dem man sich vielleicht endlich eine Axt leisten kann, im Museum macht er dem Museumsdirektor (einer Eule) eine Riesenfreude. Die Entscheidung verändert die Welt nur minimal, letztlich hängt sie allein vom spontanen eigenen Befinden ab.

 

Dank einer eingebauten Echtzeituhr verlaufen Tages- und Jahreszeiten im Spiel synchron mit der Wirklichkeit. Betritt man die Spiel-Welt um drei Uhr nachts, ist dort nicht viel los. Der Laden ist geschlossen, eine Grille zirpt, und der Soundtrack besteht nur aus ein paar weichen Rhodes-Akkorden. Es gibt nichts zu tun außer am Strand spazieren zu gehen und vielleicht ein tagsüber entworfenes Sternbild nun am Nachthimmel zu betrachten. Gerade in solchen Momenten funktioniert »Animal Crossing« auf fast mysteriöse Weise besonders gut, trotz des akuten Mangels an Aufgaben. Denn die »wilde« Animal Crossing-Welt ist komplett durchgestylt, jedes einzelne Detail, jede Proportion perfekt abgestimmt zu einem völlig konsistentem Kontinuum, in dem man sich gerne bewegt. Nicht zuletzt durch fein dosierte Portionen ekliger, schmutziger und ein bisschen unheimlicher Elemente (Kakerlaken etc) entsteht ein besonders plastischer Eindruck - der allerdings keineswegs Realismus bedeutet, alles wirkt durch und durch synthetisch. Zugleich ist die Umwelt in ständiger, sanfter Veränderung begriffen, die immer neue Kombinationen aus Klang, Wetter, Licht und Vegetation hervorbringt. Getragen von dieser atmosphärischen Tiefe und der besondere Rolle der Zeit, bleibt der »Flow« trotz einer schwindelerregend geringen Dichte von Dingen und Ereignissen und ohne jeglichen Plot erhalten. Timing und räumliche Struktur sind exakt so gestaltet, dass auf den langen Wegen und während der vielen Wartezeiten weder Eile noch Langeweile aufkommt. Es ist voll und leer zugleich - ein meditatives Gleichmaß, das bisweilen, wenn der Spielfluss beim nächtlichen Spaziergang doch mal fast ins Kippen gerät, einen eigentümlichen Effekt des Heraustretens, der Reflexion bewirkt. Was mache ich hier? Im entstandenen Freiraum jenseits des linearen Spielverlaufs zeigt sich, dass es auch ohne Leistungsdruck, Aufgaben, Wettbewerb geht, Spielen also anscheinend noch etwas Anderes bedeutet. Indem es allein dieses Andere in den Mittelpunkt stellt, bringt »Animal Crossing - Wild World« es fertig, als eine Steigerung dessen zu wirken, was das Videospielen ausmacht. Schon zuvor vorhandene Aspekte des Computerspiels, nämlich Künstlichkeit und Zeitverschwendung, stehen nun alleine da und können beziehungsweise müssen bewusst bejaht werden - einschließlich der Melancholie, die aus der Erkenntnis erwächst, gerade nichts Besseres zu tun zu haben.

 

 

Freilich konnte man Computerspiele schon immer so spielen: auf vorgegebene Ziele pfeifen und eben einfach nur herumspielen, letztlich ist es ja eh nur ein Spiel. Seit Jahrzehnten werden Spiele von Künstlern oder aufgeweckten Individuen so abgewandelt, dass lineare Handlung, Punktesystem und Zeitdruck verschwinden und sich ein entspannter, eher atmosphärischer Zugang zu den künstlichen Welten auftut. Schließlich gab es auch immer wieder Ansätze, Videospiele von vornherein zu so konzipieren - wenn auch meist eher im experimentellem Rahmen und nie in dieser radikalen Konsequenz. Denn erst Detailtiefe, technische Perfektion und die daraus resultierende Leichtigkeit von »Animal Crossing - Wild World« ermöglichen einen so weitreichenden Verzicht auf den klassischen Spielaufbau bei gleichzeitiger Massenmarkt-Tauglichkeit. Dies lässt sich nur mit enormem Entwicklungsaufwand erreichen, weshalb ein solches Spiel als Experiment nicht machbar ist und es Vergleichbares bisher auch nicht gab. Ein Titel, von Nintendo selbst (4) mit großem Budget entwickelt, um dann die üblichen Erwartungen an Handlung und Zielsetzung derart ins Leere laufen zu lassen - ist bemerkenswert. Im Zusammenspiel mit dem beschriebenen affirmativen Einüben von Geldwirtschaft und sozialem Verhalten in einem gemütlichen Kleinbürger-Kosmos wirkt die Abwesenheit der sonst zwingend vorhandenen Normen Wettbewerb und Spielziel zugunsten ziellosen Umherschweifens besonders frappierend, ja geradezu subversiv.

 

 

Oliver Wittchow

 

 

 

 

(1)

Aktuelles Beispiel: Die öde Kapitalismussimulation »Second Life«, deren alleinige Bestimmung es zu sein scheint, Journalisten als Beleg dafür zu dienen, wie weit es mit unserer Gesellschaft gekommen sei - analog zum Cybersex der 90er Jahre.

 

(2)

Viel beachtete, aber meist kommerziell bedeutungslose oder sogar subventionierte Vorzeigeprojekte, für die auch wieder Künstler angeheuert werden, beispielsweise das Klang-Spiel »Electroplankton« von Toshio Iwai.

 

(3)

Bei verwandten Spielen wie »Harvest Moon« oder den »Sims« ist es wesentliches Ziel, mit den Spielfiguren anzubandeln und eine Familie aufzubauen.

 

(4)

Nintendo bringt üblicherweise nur die ganz großen Titel (»Super Mario« etc.) selbst heraus, der Rest kommt von anderen Publishern.