26. September 2007

Pumpernickel im Metallkoffer

 

Zahnarztpraxen mit Geo-Reportage-Posteredition der Bergwelt im Wartezimmer. In Erwartung einer Krone stiert man auf die höchsten Gipfel der Welt. Beton gegen Steinschlag, Keramik gegen Karies, auf dass sich die Substitute in das Substituierte verwandeln mögen. Die größte Ausstellung in diesem Sommer, die Documenta, besuchen, indem man durch den Wald sich nähert, mit dem Auto versteht sich, wie weite Welt und wilder Wald.

 

Im Wald zwischen Uelzen und Suderburg stehen Campingbusse, darinnen warten Prostituierte auf vorbeisausende Freier - scheint sich zu lohnen, alle 300 Meter steht wieder ein Bus dieser Art ...

Merkwürdig, dass gerade diese Bundesstraße zu der Gespensterdruckerei führt, einer Druckerei für Gemeindebriefe und weitere sehr, sehr fromme Zettelwirtschaft. So fromm, dass man keine Nackten abbilden darf und es wegen der Gerhard-Richter-Anzeige auf der Umschlagseite der Nummer 2 des Magazins »Kultur & Gespenster« schrecklichen Ärger gab, aber durch eben diesen Fickwald müssen alle fahren, wenn sie zum Drucken wollen. Also ist die Strenge der Drucker wohl präventiv.

 

Präventivausstellungen, anderswo wär’s stolzer Lobbyismus, in Hannover, einem Zwischenhalt, ist’s irgendwie Präventivmaßnahme, um nicht vom Tellerrand zu rutschen, ins ungedämmte wahre Leben vielleicht – keine Ahnung, was das jetzt wieder sein soll, raus aus den Ausstellungshallen, rein in eine Verantwortung vielleicht.

 

Das Kestner-Museum ist nicht die Kestner-Gesellschaft, so viel kann man schon mal sagen. Außerdem gibt’s im Kestner-Museum 200.000 Thermoglasscheiben, weshalb es sehr warm wird darin. Diese Wärmeentwicklung wird in den nächsten Stunden noch häufiger Thema sein. Schon wieder Prävention. Man unterhält sich nicht mehr übers Wetter, sondern über das Energiesparen im Wetter und die optimale Dämmung davor. Auch im Hotel wird man dringend davor gewarnt, bei Nacht die Fenster zu öffnen, solange man noch Licht hat, da andernfalls – die Mücken, nun ja.

 

Ach ja, der Thomas Zipp noch, also der hat in die Ausstellung, diesmal ist es wirklich die Kestner-Gesellschaft, einen Militärlastwagen mit Hühnern hingestellt, und eines der weißen Tiere sitzt auf der Stange, wie Hühner pflegen, und schnarcht wie ein Mensch, vernehmlich und behaglich – habe ich noch nie gehört so etwas – bei einem Huhn. Die ganze Sache, zu der auch noch ein Bild und eine Büste zählt, heißt »the new breed«, also die neue Rasse, na, das sind ja die allerschönsten Zuchtideen, schnarchende Hühner, verschnarchte Kunst aus Deutschland. Die neue Rasse – sind denn alle wahnsinnig geworden? Um noch ein wenig länger auf dieser Präventiv-Idee Hannovers herumzureiten, könnte man anmerken, dass der Zipp-Raum im Münchner Lenbachhaus ein vollausgewachsener Drogentraum ist, ein dürres Gestänge musealisierter Materialnot, die Künstler dazu zwingt, jeden, aber auch jeden Zettel auratisch einzuspinnen, um eine zierliche Unverständlichkeit in Optik und Psychotik herzustellen, mit detailverliebten Elektrokabeln, deren Kabelklemmen in verschlungenen Wegen, einem Rinnsal gleich, über den Boden laufen ... im Gegensatz zur Hannover-Ausstellung, wo rumgeklotzt wird und rohe Titel und schweres Gerät herumstehen, um den Platz präventiv zu besetzen, mehr aber erst mal nicht gewollt scheint.

 

Im del arte café vorm Sprengel-Museum ist die Glastür beschädigt und mit weißrotem Sicherheitsstreifenband geklebt, leuchtend, aber schamhaft. Das sind überzeugendere Streifen als die auf dem Faltblatt zur Dreihäuserkombinationsausstellung »made in germany«, wo ein Strichcode in Schwarz-Rot-Gold und angrenzenden Farben darauf hindeutet, dass man die deutsche Kunstproduktion mit dem Besuch dieser Ausstellung gescannt bekommt, unangenehm – vor allem weil, wenn das wahr wäre – schrecklich, nein, mad about germany wird man. Ansonsten blickt man dort auf der Caféterrasse auf fipsige Sichtbetonstehlen, deren Schalbretter eine Nummer zu klein gewählt wurden, deshalb sieht’s doppelt fipsig aus, na die Stelen sollen wohl korrespondieren mit dem jungen Mann auf Wasserball, oder ist es eine Weltkugel, der am Maschseeufer unten auf einer Siegessäule balanciert.

 

Auf der Kasseler Wilhelmshöhe steht der Herkules im Abenddunst wie Cape Caneveral, seitlich eingerüstet, fertig zum Take-off, fliegende Untertassen gab’s auch schon vorher im Café Menniger beim Einnehmen eines »Herkulessalats«, also die richtige Frage, nee, der Herkules bekam ja Aufgaben, aber die richtige Frage zu stellen, wird ehemaligen Erziehungsberechtigten geraten, nicht immer Antworten zu erwarten. Und dann kommt als nächstes die Frage: wie denn das Codewort für Kunst der Documenta lautet. Schon wieder ist man bei der geforderten Antwort. Alle wollen dringend auf die Raketenrampe, glauben aber das Codewort nicht zu kennen, und schießen deshalb rum wie Mückenlarven, so wie eben auch die überarbeitete Kellnerin, der innerhalb einer Stunde fünf verschiedene Gedecke zu Bruch gehen. Das Gesetz der Serie, welches die Unglücksmatrone in immer zugespitzteren Stress bringt. Und keiner kommt ihr so weit entgegen, ihre Drangsal ins verwechselbare Allgemeine zu heben, es zu vergleichen mit der unausgesetzten Fortsetzung, dem ritualisierten Geschirrzerschlagen, und der Empörung, die jede Documenta und alle möglichen anderen Periodika (Fußball-WM, Kanzler-Wahl) zuverlässig mit sich bringen, nein, man lässt sie ganz allein ein neues Glas, diesmal direkt auf einen Gast, ausschütten.

»Das Interessante am ästhetischen Urteil ist nicht das Resultat, sondern die geistigen Energien, die frei werden beim Versuch, es zu begründen. Es geht nicht darum, Recht zu haben. Der Streit im Ästhetischen ist eine Konkurrenz um Tiefe und Triftigkeit der geistigen Aneignung. Grobianisches Naturell gehört dazu, die Gegenstände aus der Welt des Schönen überhaupt erst richtig in sich einschlagen zu lassen, aber auch ein Gegenorgan des meditativen, melancholischen Sinnierens, der Unsicherheit, Verzagtheit und Nervosität, um das Bebende des Weltgrunds, auf den alles sich bezieht, auch mitfühlen zu können«. Sagt Reinald Goetz und er hat doch auch etwas Deutsches mit seinen gewissen, diskreten Regeln und der Festigkeit seiner Annahmen. Seine Regeln befolgt hier leider niemand. Es geht hier nur darum, Recht zu haben in seiner Ablehnung, und es geht gleichzeitig darum, die Dinge nicht in sich einschlagen zu lassen, weil man beschlossen hat, dass sie es nicht wert sind. Die Unsicherheit ist verwandelt in aggressive Wüterei, in ein Lamento über die Milchhaut-dünne Relevanz, ja ein sich andeutender Diskurs darüber wäre noch dünner als Eis, er ist wie Milchhaut. Aber wenn es einen langweilt oder man ängstigt einzusinken, durchzubrechen in den Morast der Belanglosigkeit, muss man es sich eben interessant machen, es ist auch ganz einfach. Solange man nur genau auf die Betrachter schaut. Wenn man witziger ist, kann man auch über die Kunst sprechen, so man im Stande ist, einem solchen Gedankenstrom, eine ganze Ideenflucht, in sich zu erzeugen, wie es dem Herrn Ubique in Tiecks »Vogelscheuche« möglich ist, der eine ganz hervorragende, höchst avancierte Kunstführung durch einen Haufen abgeschabter Ladenschilder zustande bringt:

»Das erste Bild war das unbedeutendste, das Schild eines Bäckerladens, uralt und schwarz, eine Bretzel, von zwei Löwen angefasst, eine ungewisse Stellung, ob sie das verschlungene Backwerk halten oder zerreißen wollten. Dieses Bildwerk, mein gnädigster Herr, begann Ubique seine Erklärung, ist ohne Zweifel eines der ältesten, welches unsere Stadt besitzt, es erinnert an die Zeit des Giotto oder Cimabue, und wenn es auch nicht aus diesem Jahrhundert herrühren sollte, woran ich selber mit Recht zweifle, so ist es in Colorit und Zeichnung dem Alterthum angemessen, ja in Ansehung der einfachsten Darstellung, der fast steifen Symmetrie und der tiefsinnigen und mystischen Symbolik prägt es den Charakter der allerältesten Kunstperiode aus. Wir sehen, den Mittelpunkt des Bildes macht das Backwerk, welches wir im gemeinen Leben eine Bretzel nennen. Scheinbar ein geringfügiger Gegenstand, den aber der sinnige alte Künstler, welcher seinen Dante gewiß studirt und begriffen hat, so braucht, dass wir an das Größte und Bedeutendste durch ihn erinnert werden. Ich weiche nehmlich von Adelung und anderen Sprachforschern bedeutend in der Etymologie des Wortes Bretzel ab. Vom uralten Rathisa stammt sie ab, unser rathen, berathen, Rathschluß sind von jenem Stammworte abgeleitete Bedeutungen; späterhin das Räthzel, und wie ich sage »rathen« und »berathen« und beide das selbe bedeuten, so meine ich auch , dass Räthzel und Bretzel ursprünglich ein und dasselbe Wort sind, was auch die Bemerkung bestätigt, dass in manchen Provinzen, wie im Elsaß noch heut zu Tage, die in der Mitte zusammengewachsenen Augenbrauen eines Menschen ein Räthsel heißen. Dieses Räthsel, was kann es anderes sein als die Tiefe des Lebens selbst?«

Diese Führung ist recht ausführlich und kein scholastisches oder moralphilosophisches Gelände wird gescheut, und es gibt kein Irrewerden, auch nicht durch erboste Zwischenrufer, denen die kühne Abstraktion des Kretischen Labyrinths als Wurst, es handelt sich um das Ladenschild eines Metzgers, zu weit geht. Großartig, so kommt man voran. Ich sag mal: Migration der Form.

Denn das Mohnfeld blüht sehr hübsch und dazwischen wandeln Spitzwegfiguren, dickbäuchige Studienräte mit Gattinnen, die Brotdose fest im Griff, ja es wird im Gehen gegessen aus Brotdosen, ich wünsche mir das für die nächste Art Basel, nicht Champagner, sondern Brotdose mit Pumpernickel, und Kochschinken ... durchgezogen, miefig aber bildungsbeflissen und deshalb gesund auf flachen Absätzen.

Es ist so typisch wie selten sonst in der Massenhaftigkeit. Die Lehrer bilden sich fort und Kassel ist zugeparkt mit Kombis von VW oder anderen praktischen Fahrzeugen, genauso wie die Funktionskleidung oder die Hornbrillen mit freundlichen Rundgestellen, man findet ja auch leichter in die Rolle des Belehrten, wenn man rundäugig durchblickt oder zumindest so tut als ob. Lautere angestrengte Wissbegier, aber doch nicht so doll, wie man es sich wünschen würde ...

 

Was ist in dem Metallkoffer?

- Nichts.

- Wozu hast du den dann dabei?

(Es folgt eine knappe Demonstration, wie sich dieser Koffer sehr praktisch dafür verwenden lässt, jemandem damit die Fresse einzuschlagen.)

 

Verblüffende Umwidmung. Ist das intendiert? Und wer erklärt einem das in Kassel? Herr Ubique steht nicht zu meiner Verfügung – leider. Außerdem läuft niemand auf der Documenta mit leeren Metallkoffern rum, alle tragen eine Brotdose vor sich her, und da sind wirklich Stullen drin, und fressen sich voll mit schwachsinnigen Erklärungen.

 

Die Strichcodes aus Hannover gehen über in die 12 Striche, die das Logo der Documenta bilden. Schwarz auf Weiß. Ist die Moderne unsere Antike und sitzen wir schon so lange im Bedeutungsknast, ritzen wir wohl alle 4 Jahre einen Strich in den Styropormarmor unserer weißen Zelle, also jedenfalls stehen antikisierende Styroporblöcke als Treffpunkte überall in Kassel und tragen dieses 12er-Strichmuster.

 

1001 Stühle aus China stehen auch herum und sind sehr schön, man kann drauf sitzen und muss sich dabei sehr grade halten, ist also nichts mit Designlounge hier, angenehm unbequem also. Weil es überhaupt viel Kunst aus China zu sehen gibt, orientiere ich mich nun zum Schluss an einem neunstufigen Code zur Betrachtung und Beurteilung chinesischer Druckgrafik, die ich in einem Buch über neuen chinesischen Farbholzschnitt fand, ein Buch voller Propagandaplakate der 70er Jahre. Dieses Kapitel chinesischer Geschichte ist übrigens gar kein Thema auf der Documenta, wäre wohl zu kompliziert der »Schönheit« einer despotischen Regierungsform samt repressiver Propagandaabteilung nachzuspüren, denn um Schönheit sollte es ja gehen und darum kommt nun die erste dieser sehr brauchbaren Faustregeln.

 

Der fliegende Rockschoß

Das hat barocke Prägung, bedeutet Bewegung und ist besonders bei den herumjachternden Besuchern zu bemerken, die straff getaktet von Berufswegen auch den Besuch der Documenta ebenso fliegend abhaken wie Arbeit eben.

 

Das futuristische Lächeln

Eine angeblich nur in der chinesischen Kunstgeschichte anzutreffende Gestaltungsform des Gesichts (Antlitz Diagnose – positiv), da es nicht um individuelles Glück, sondern um zufriedene Gesellschaft gehen soll. Der nunmehr trotzig futuristische Blick beschreibt einen Betrachter beim Nichtverstehen, aber Innerlichkeit und gesellschaftliche Relevanz annehmenden Studienrat.

Andere Berufsgruppen verlieren schneller die Contenance und werden einfach nur wütend, das ist auch irgendwie futuristisch, weil es archaisch ist, aber eben ohne Lächeln.

Das leitet über zum nächsten Passus.

 

Der gerechte Zorn

Nicht Reflexion einer Situation, sondern konstruktive Aktion auf die Bewältigung von Zukunft soll es sein, das ist selten, ich habe es in Kassel gar nicht bemerkt.

 

Das konturierte Wichtige

Da kommt man in Schwierigkeiten, weil man manchmal nicht weiß, ob es sich um eine zufällige, eine warnende oder eine verschleierte Konturierung handelt, das Reisfeld zum Beispiel, ist mit rot-weißem Absperrband, wie in Hannover, konturiert, irgendwie klappt da etwas nicht mit der Bewässerung, und wenn sie da noch lange rumexperimentieren, rutscht das ganze Schloss Wilhelmshöhe mit samt den alten Meistern in den Matsch den Hang herab.

 

Die Lust am Ornament

ist immer da und vor allem daran zu bemerken, dass es keine weiße Flecken oder Stellen geben darf, man kann es die gelungene Abwendung der Bedrohung vom Horror Vacui nennen. Man kann auch sagen, dass es nur eine gewisse Anzahl von gleichartigen Sachen geben muss, und man ist gleich viel ruhiger, genug Stühle, genug Chinesen, genug silberne Vorhänge im heiteren Glashausareal in der Aue. Genug Besucher, ja und auch genug Regen.

 

Der sprechende Körper

zeigt sich am eindruckvollsten bei den Führern die mit weisenden Händen auf diese oder jene Besonderheit zeigen, im Gegensatz zu ihren subalternen Kollegen, den Scouts und Bewachern, die in seltsam schlabberigen Überwürfen, die an den Seiten zusammengeknotet werden, und die es offenbar nur in einer Größe gibt, aussehen wie Style Council der 80er Jahre mit flotten Seitenknoten, nun durch Weichspüler zu schlaffer Appropriation eines „hatte man in der Antike nicht so schlabberige Sachen an?“ verwandelt sind.

 

Die stehende Parole

Tickets, Garderobe und Bookshop oder alles noch mal auf Englisch. Jedenfalls ist die Grafik dafür zuständig gewesen, eine Type auszuwählen, um das gewaltsam dorisch ragende der großen Lettern in ein flappiges auseinanderfallendes Etwas zu verschieben. Das sieht aber genauso blöd aus wie die weichen Kittelhemdchen der Scouts.

 

Das Monumentale

ist ganz einfach der Proportion zwischen Wilhelmshöhe und dem Glashaus geschuldet, der Wissbegier und der glücklicherweise beharrlichen Nichtbeantwortung ...

 

Zum Schluss noch Gruppe und Individuum

Das ist auch ganz einfach, keiner gibt’s zu, alle waren doch da, nein, man muss das nicht, man muss da nicht hin. „Beauty is fragile“ steht manchmal auf Kartons voll mit Fleischsülze in Gläsern.

 

Nora Sdun