26. August 2007

Albert und ich

 

Ich war zwei, als ich zwanzig war, und drei, als ich vierzig wurde. Es würde noch sehr lange dauern, bis ich erwachsen war, das wusste ich. Also vertrieb ich mir die Zeit wie Wanja, der auf dem Kamin lag und alle sieben Jahre das Dach anhob, um zu sehen, ob seine Kräfte wachsen. Nur, dass meine Arme nicht lang genug waren, um vom Bett aus die Zimmerdecke zu stemmen. Ich beschränkte mich aufs Starren, aufs Absehen von. Da ich die Geduld mit mir schon vor vielen Jahren verloren hatte und wusste, dass ich als Achtzigjähriger höchstens neun werden konnte, spielte ich mit einem, der von sich behauptete, er wäre mein inneres Kind, Versteck. Manchmal redete er mit mir wie ein Frechdachs, aber im Allgemeinen liefen wir voreinander fort. Ich versuchte mich, so gut es ging, zu arrangieren mit seinen Macken, aber mit meinen kam ich einfach nicht zurecht. Er behauptete, er heiße Ich, und ich behauptete, nein, so heiße ich. Wir konnten unmöglich beide Ich heißen. Aber schon ging das Gezeter los, mein Inneres fing zu heulen an, stampfte mit den Füßen auf den Boden und rockte unheimlich ab, wurde wilder und wilder und munkelte etwas von "In-Ruhe-lassen", "Freiheit haben" und "Hunger auf Schokolade!". Zusammen waren wir das, was man die persönliche Note nennt.

Da sich das Zusammenleben mit mir zunehmend schwieriger gestaltete, hörte ich auf, auf meinen Namen zu hören. Ich reiste nach Malente. Dabei fand ich ihn: Albert. Mein Alter Ego?

Wir lernten uns an einem See kennen, an dessen Ufer wir beide interniert waren als Gäste einer psychosomatischen Kurklinik. Er war Basketballer, nicht von Berufs wegen, sondern seiner Identität halber, und lief meist in einem königsblauen Adidas-Trainingsanzug und ebensolchen Turnschuhen herum. Ansonsten war er blond, gefönt, groß und einigermaßen athletisch. Ich, dieses Wort kam mir mehr als verdächtig vor, war noch im Entstehen begriffen. Jedenfalls fühlte ich mich so: geradezu umzingelt von dem, was mir als innere Mitte vorgeschlagen wurde.

Albert litt an einem für mich nachvollziehbaren Krankheitsbild, das auch meines war, das aber kaum jemand verstand: Beide hatten wir unglaubliche Angst. Vor allem. Vor allem vor uns selbst. Mehr möchte ich darüber nicht verraten. Nur, dass wir uns daher gut verstanden und viel Zeit miteinander verbrachten. Zeit, die uns um den See führte, zum hauseigenen Billardtisch oder zum Bäcker, wo wir unsere gemeinsame Vorliebe für Bienenstich pflegten. Wir waren beide ohne Freundin, damals, was die weiblichen Kurgäste wohlwollend zur Kenntnis nahmen und uns fortan ins Auge fassten. Er kam bei einer schwarzhaarigen Frau gut an, die Sekretärin war... und bei den einigermaßen normalen, unauffälligen Damen. Ich eher bei den fett- und magersüchtigen, missbrauchten Frauen. Eine von ihnen, eine supergut aussehende 17-Jährige, hielt mich für ihren Vergewaltiger. Eine sehr beleibte 50-Jährige mit braunem Opel Commodore hielt mich für ihre große Liebe und hängte mir jede Nacht ein anderes Geschenk an den Türgriff meines Zimmers. Von außen. Einmal war es eine selbstgestrickte Wollkatze, über die sie eine ganze Flasche 4711 ausgekippt hatte, was das Zimmer komplett ausparfümierte. Ich stellte das rosarote Tier auf dem Balkon ab, wo es sich im Regen beweisen musste. Ein andermal war es eine bemalte Kaffeetasse oder eine Silberkette mit einem Herz dran, die an meiner Tür hing wie ein hilfloser Jesus.

 

Ich, und das ist nur ein Teil von mir, wusste mit dieser Art von Zuneigung nichts anzufangen, reagierte nicht und bekam leichte Schuldgefühle, die ich mir wegmassieren ließ. Dafür war man ja auf Kur.

Albert und ich: Wir waren beide Ketten-Nichtraucher und freuten uns auf unser Bett. Jeder auf sein eigenes. Den ganzen Abend ließ man uns sich darauf freuen. Und die Tage waren lang. Und es gab derer viele. Wir versuchten uns im Pingpong, machten mehr schlecht als recht unsere Übungen, hatten Gespräche mit Profi-Ratgebern, gingen ins Dorf, wo man Filme zur Entwicklung brachte oder sich neue Badesandaletten kaufte. Im Fernsehraum ärgerte man sich mit anderen über das Programm. Oder man konnte sich über die, die sich lautstark ärgerten, ärgern. Man aß viel, schwamm, badete im See, spielte Volleyball oder saß einfach nur da und verarbeitete sein Trauma. Tagelang starrte ich auf den See und leitete dort meine negativen Energien hinein. Irgendwann schwappt er über, dachte ich bezüglich des Sees, irgendwann schnappt er über, dachten die anderen (über mich).

Manchmal saß Albert neben mir. Dafür, dass wir uns eigentlich viel zu sagen hatten, schwiegen wir aber eine ganze Menge. Er erzählte mir nur, dass er Fliesenleger sei und den Betrieb seines Vaters übernehmen solle. Und dass sein Vater auch beim Sport einen unglaublichen Druck auf ihn ausübe, worauf er mit Herzrasen reagiere. Kein Wort des Wutes kam über seine Lippen. Ich sprach von meiner Arbeit in einem Büro voller Ausrufezeichen. Er meinte, das könne man vielleicht als Ferienjob machen, nicht aber als ernsthafte Betätigung. Handwerker können sehr direkt sein.

Während der acht Wochen, die wir miteinander verbrachten, schlossen wir uns diversen Frauenriegen an, die sich auf den Grünflächen vor dem Haus sonnten. Manche der Damen kam uns näher. Marina, eine extrem depressive Patientin, die als Hebamme gearbeitet hatte, beklagte sich bei mir, wenn sie überhaupt einmal sprach, dass sie keine neuen Leute kennenlerne. Ich errang ihre Gunst, indem ich sagte, neuere Leute als die, die du jeden Tag zur Welt bringst, gibt es nicht. Sandra mochte mich auch. Sie war von innen völlig verpilzt und von außen rothaarig-zugesprosst mit roten Punkten. Sie kam aus Flensburg und durfte wegen ihrer Allergien nur Quark essen. Ich hatte für vieles Verständnis und ein offenes Ohr. Benita war sehr jung und ähnelte meiner ersten großen Liebe, der ich fünf Jahre ergebnislos hinterhergelaufen war. Ich küsste Benita an einem Bahnübergang nach dem Kegeln. Am nächsten Tag ging sie mir aus dem Weg. Ich wusste: Das hätte ich nicht tun dürfen. Sie hielt mich für ihren Vater.

Albert hatte inzwischen mit der Masseuse des Hauses angebandelt: Linda war eine kecke Person, die das Landleben satthatte und in Albert einen tollen Kerl sah, ihre Fahrkarte ins Glück. Zwischen ihnen schien sich etwas Ernsthaftes zu entwickeln. Albert machte mit Linda ein Date aus, und wir fuhren zurück nach Hamburg. Für immer.

Telefonisch erfuhr ich später, dass die Frau, die mir die Plüschkatze angehängt hatte, nicht mehr nach Hause wollte und in ihrem Commodore vor der Klinik campierte. Ihr Mann verprügele sie immer und sei Alkoholiker, hatte sie in der Klinik erzählt. Dann aber hatte sich herausgestellt, dass sie ihren Mann verprügelt und sie die Alkoholikerin war. Nach drei Monaten "Behandlung" hatten die Ärzte sie entlassen, ohne dies zu bemerken. Erst als sie das Feld nicht räumen wollte, diagnostizierten sie ihr Schizophrenie und wiesen sie direkt vom Parkplatz in eine geschlossene Anstalt ein.

 

Sechs Monate später hatte Albert seine Krankheit überwunden: Er musste dafür nur die Firma seines damit milde gestimmten Vaters anstandslos übernehmen, für 250000 Euro ein kleines Haus mit Spitzgiebeldach im Westen der Stadt kaufen und die Masseuse Linda heiraten. Das tat er dann auch. Er hatte voll zugeschlagen, Nägel mit Köpfen gemacht, wie es im Jargon der Handwerker heißt.

Als ich die beiden besuchte, stellte ich fest: Albert hatte jedes Zimmer im Haus weiß ausgekachelt und die Fugen geschwärzt. Von den Böden bis zu den Decken glänzte es. Sogar den Springbrunnen im Wohnzimmer hatte er verkachelt. Linda beteuerte dagegen, sie würde sich am wohlsten im kleinsten Zimmer unterm Dach fühlen, ein Sechs-Quadratmeter-Raum mit einem Einzelbett: der einzige im Haus, in dem ein Teppichboden lag. "Hier ist es am gemütlichsten", schmunzelte sie mit leicht hängenden Mundwinkeln. Albert beteuerte, so viel zu tun zu haben mit dem Haus und seiner neuen Firma, dass kaum Zeit bleibe, mit Linda einmal ins Kino oder zum Brunch in die Stadt zu fahren. "Vielleicht nächstes Wochenende!" war seine Devise.

Was aus den beiden wurde? Ich weiß es nicht. Schlagende Herzen unter Keramik? Eine Hollywood-Schmonzette für Psychos?

Es wurde das Märchen vom Fliesenleger und seiner Masseuse. Ein unausgekacheltes Open End, das noch zu verlegen bleibt.

 

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erschienen am 25. August 2007 im Hamburger Abendblatt

 

Carsten Klook

 

1959 in Hamburg geboren, verbrachte Kindheit und Jugend auf der Insel Rügen und in Billstedt. Seit 1982 ist er als Journalist, Musiker und Autor tätig. 1988 und 1991 erhielt er Literaturstipendien der Stadt Hamburg. Neben dem Roman "Korrektor" ist im Textem-Verlag die Erzählung "Senna!" und der Erzählband "TV-Lounge" erschienen. Beim Label "Grünrekorder" ist seine CD "Halbe Portion Jubel" erhältlich, eine Sammlung von Hörstücken und Prosaminiaturen. Infos: www.textem-verlag.de