15. August 2007

Pop-Angriff

 

Wer Anekdoten sucht, braucht nur zu blättern. Klaus-Rainer Röhls konkret, in den 60ern tatsächlich ein linkes Publikumsblatt, ist so reich an Geschichten und Geschichtchen, dass nicht einmal Bettina Röhl alle kennen, geschweige denn erzählen könnte. Dabei hat sie im letzten Jahr immerhin eine fast 700-seitige Geschichte der Zeitschrift vorgelegt. So kann man z. B. in der Juni-Ausgabe 1966 lesen, wie ein gewisser Rolf Dieter Brinkmann, Köln, sich in einem Leserbrief bitterlich über den Niedergang des Blattes beklagt. Nicht die »Sexbildchen« missfielen ihm (»das ist gut, ausgezeichnet sogar, mehr davon«), umso mehr aber die Plattenkritiken des »Kollegen Fichte«: »Das hier ist schon nicht mehr konkret, es ist wässrig. Beinahe Hör-Zu-Serien. Mehr Subjektivität, extrem und tief genug in den Dingen sich verlieren, würde Ihrer Zeitschrift gut tun.« War das etwas, was man heute eine Initiativbewerbung nennt? Oder nur schlechte Laune? Auf jeden Fall formuliert Brinkmann hier, was er in den nächsten Jahren zum Programm seiner Literatur erheben wird – und wofür er bis heute als einer der beiden deutschen Heroen der »Popliteratur« gefeiert wird.

 

   Der zweite, der unter diesem Titel durch die Literaturgeschichte reist, ist natürlich Hubert Fichte, dessen kurzlebige Kolumne Hubert Fichtes Plattenragout Brinkmann eben eine solch »überflüssige Papierverschwendung« schien. Es ist wohl kein Zufall, dass ausgerechnet ein journalistisches Produkt Brinkmanns Zorn hervorrief. Ohne die Geschichte der Musikkritik lässt sich die Geschichte der Popliteratur kaum verstehen, und es ist bemerkenswert, wie früh der Renaissancemusikfan Fichte sich auf diesem Feld versuchte, wenn auch zu seiner eigenen Verzweiflung. Zu den Rolling Stones fiel ihm immerhin ein ganzer Satz ein: »Die Rolling Stones tragen ihre auf Grund überdimensionierter Schwellkörper zwangsläufigen Befriedigungsmängel gekämmt im Rahmen einer Hör zu!-Schallplatte vor.« Wenig später bat er, die Kolumne abbrechen zu dürfen, ihm falle beim besten Willen nichts mehr ein. Eine ernstzunehmende Popkritik begann hierzulande erst einige Zeit später mit dem Zeit- und Sounds-Autor Helmut Salzinger alias »Jonas Überohr«.

 

   Natürlich ist es fragwürdig, einer Anthologie, die über 40 Jahre deutschsprachige Popliteratur dokumentiert, vorzuwerfen, bestimmte Texte oder Autoren nicht zu berücksichtigen. Doch zumindest der erste Teil von Kerstin Glebas und Eckhard Schumachers 400-Seiten-Wälzer Pop seit 1964 stimmt skeptisch. Sämtliche Schreiber, die für den Zeitraum 1964 bis 1971 ausgewählt wurden, sind wohlbekannt: H. C. Artmann, Peter Handke, Hubert Fichte, Rolf Dieter Brinkmann, Elfriede Jelinek und Jörg Fauser. Entdeckungen sind hier kaum zu machen. Nur einer der Autoren – nämlich Fauser – wäre allenfalls der subkulturellen Szene zuzurechnen, die übrigen standen längst bei den größten Verlagen unter Vertrag. Der gesamte Underground von P. G. Hübsch bis Jürgen Ploog fällt gänzlich unter den Tisch, ebenso Autoren wie Peter O. Chotjewitz, Manfred Esser usw. Auch frühe Versuche im Popjournalismus sucht man vergebens, und Salzingers Fehlen bleibt – bei allem Verständnis für Platzökonomie – doch ein herbes Versäumnis.

 

   Das gilt umso mehr, als der Autor so wichtiger Bücher wie Rock Power (1972) und Swinging Benjamin (1973) ohne weiteres den Link zum zweiten Hauptteil von Pop seit 1964 hätte liefern können, nämlich in die 80er Jahre. So erschienen in Sounds, Salzingers Hausblatt, frühe Kritiken und Texte des Popexperten Diedrich Diederichsen. Ohne Diederichsen und sein Magazin Spex wiederum wäre die Wiederbelebung des Begriffs »Pop« für Literatur und Kritik kaum denkbar. Er war es auch, der z. B. Fichte wieder auf die Tagesordnung setzte, mit deutlichen Folgen für die neuen Pop- oder wie man seinerzeit sagte: New-Wave-Literaten der Achtziger wie Rainald Goetz oder Thomas Meinecke. Noch Goetz’ 1998er Techno-Roman Rave liest sich wie eine Fortsetzung zu Fichtes legendärem Kneipen-Buch Die Palette von 1968, und Meinecke setzte dem Hamburger Autor in seinem Roman Hellblau von 2001 ein Denkmal. Andererseits ist der Aufbruch der Achtziger nicht zu verstehen ohne Ausfälle gegen alle, die man damals voller Verachtung »Altachtundsechziger« zu nennen begann. Diese merkwürdige Spannung nachzuzeichnen, wäre vielleicht zu viel verlangt von einer Anthologie.

 

   Überhaupt ist das Mittelstück des dreiteilig angelegten Buches auch sein stärkster und kohär­entester Teil: Den 80ern, so viel ist deutlich, sind Gleba und Schumacher geneigt, was sich nicht zuletzt durch ihre Jahrgänge – 1969 und 1966 – erklären lässt. Auch der Verlag dürfte es ihnen danken, immerhin sind bei Kiepenheuer & Witsch nicht nur die Bücher von Diederichsen erschienen, sondern auch so einflussreiche Bände wie die Rawums-Anthologie von Peter Glaser (1984) oder Hubert Winkels’ Einschnitte (1988), eine emphatische Parteinahme für die neue Literatur und ihre Entdeckung des Körpers. Den bekanntesten Einschnitt setzte Rainald Goetz, als er sich 1983 bei einer Lesung in Klagenfurt die Stirn mit einem Rasiermesser aufschlitzte. Der damals gelesene Text – Subito – fehlt natürlich nicht in der Pop-Anthologie, so wenig wie der KiWi-Autor Joachim Lottmann oder im letzten, der Literatur seit 1990 gewidmeten Teil die Verlagskollegen Benjamin von Stuckrad-Barre, Elke Naters oder Moritz von Uslar. Dies den Herausgebern anzukreiden scheint freilich abwegig, denn natürlich ist keiner der Genannten entbehrlich, wenn man denn schon von »Popliteratur« sprechen möchte.

 

Dass das nicht immer hilfreich sein muss, belegt vor allem der dritte Teil der Sammlung, der fast die Hälfte des Buchs einnimmt und in seiner  Zusammenstellung weit beliebiger wirkt als die beiden vorangegangenen. Haben Autorinnen wie Kathrin Röggla und Elke Naters tatsächlich etwas gemeinsam? Rainald Goetz und Alexa Hennig von Lange? Ja, antworten die Herausgeber, nämlich das eine, dass sie unter dem Begriff »Pop« verhandelt wurden. Um sich nicht mit den – tatsächlich tristen – Unterscheidungskämpfen zwischen einst guter, subversiver und längst böser, gefälliger bis bornierter Popliteratur abgeben zu müssen, die vor einigen Jahren die Debatte bestimmte, weisen sie jeden normativen Popbegriff zurück und lassen dabei nur Schreiber zu, die nachweislich so betitelt worden sind. Allerdings wurde in den letzten zehn Jahren eigentlich jeder, der unter vierzig ist und den Namen mindestens eines etwa gleichalten Popmusikers kennt, als »Popautor« rubrifiziert.      

 

   Die Ungleichgewichtung zwischen der – am schwächsten vertretenen – Popliteratur der 60er, jener der 80er und schließlich jener seit den 90ern hat aber noch einen zweiten programmatischen Grund: Gleba und Schumacher weigern sich, der Popliteratur mit ihrem Buchklotz einen Grabstein zu setzen. »Die Geschichte von Pop ist eine Fortsetzungsgeschichte«, schreiben sie: »Und immer wieder wird es aufgeschoben, das Ende.« Das mag auch erklären, warum sie jetzt ein solches Buch vorlegen, das vor sechs, sieben Jahren, als die Popdebatte ihren Höhepunkt erreicht hatte, sicherlich weniger überraschend gewesen wäre als gerade jetzt, da niemand auch nur noch Nachrufe auf die Popliteratur schreiben möchte und die letzten Forschungsprojekte auslaufen. Gegen diesen Zustand nicht Einspruch zu erheben, sondern ihn einfach so mutwillig wie konsequent zu ignorieren, ist sicherlich der sympathischste Zug des Projekts.

 

   Unleugbar ist die historische Anthologie eine der schlaffsten Formen der Literaturvermittlung. Da helfen auch die wohlinformierten und klugen Kommentare der Herausgeber wenig: Das Zappen von Romanauszug zu Romanauszug schenkt man sich lieber gleich. Und lässt sich ein schöner Text wie Brinkmanns Angriff aufs Monopol tatsächlich sinnvoll lesen, ohne seinen Kontext, nämlich die Debatte um Leslie Fiedlers Postmoderne-Thesen zu kennen? Und waren wirklich keine überraschenderen Funde zur Hand? So schwierig das Geschäft des Anthologienmachens ist, einer, vor dem sich die Herausgeber auch artig verneigen, Jörg Schröder, dessen März-Verlag Ende der 60er im Zentrum des Pop-Angriffs aufs Monopol der alten Dichter stand, hat vorgemacht, wie es geht. Sein 1984 als Brückenschlag in die 80er veröffentlichter März  Mammut, ein Ziegelstein von über 1200 Seiten, ist eine einzige Entdeckungsreise: anekdotisch, polemisch, verspielt, absurd und immer unvorhersehbar. Oder, wie Brinkmann gesagt hätte: voller Subjektivität und Lust, sich extrem und tief genug in den Dingen zu verlieren.

 

 

Jan-Frederik Bandel

Erstveröffentlicht in Kultur & Gespenster Nr. 4, Juli 2007

 

Kerstin Gleba / Eckhard Schumacher (Hg.): Pop seit 1964,

Kiepenheuer & Witsch 2007 416 Seiten, 12 €

 

Cohen+Dobernigg Buchhandel

 

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