29. Juni 2007

Verpasste Gegenwart

 

Bevor man ganz erwachsen ist, das heißt, bevor man die Erschöpfung in sich nicht mehr zurückdrängen kann, sind Sommer und Verheißung Synonyme. Wenn in Nächten die Tageshitze sich staut, nimmt eine Erregung überhand, die sich in jugendlichen Überschüssen aufbaut, vorgeblich wie etwas, dass immer nur stärker werden kann, aber niemals verebben. In der Zeit des Übergangs in eine weniger herrliche Form des Lebens empfindet man das noch in Stadien der Verminderung. Nun gibt die Melancholie zu allem Steilen ihren Senf. Man erlebt mehr und weniger zugleich als zuvor. Das ist eine Stimmung in Arnold Stadlers großartigem Roman „Komm, gehen wir“. Ich spüre ihr nach, belebt von Erinnerungschancen, die das Buch dem in den 1970er Jahren jung gewesenen Leser einräumt. (Es gibt schon eine „Umwelt“, Brandt hat den blauen Himmel über der Ruhr beschworen. Der internationale Terrorismus steckt noch in den Kinderschuhen.) Ein Freiburger Paar, mit der hausbackenen Ambition zur Weltläufigkeit, trifft auf Capri einen Ami namens Jimmy. Nein, das Prachtexemplar von einer Strandbekanntschaft heißt Jim und die Deutschen heißen Rosemarie und Roland. Sie studiert Medizin, er Philosophie. Sie ist geradlinig. Er eiert. Und so weiter, denke ich, erfasst von einem Stimmungswechsel. Roland hatte eine notorische Capriurlauberin zur Tante, eine schon zu Lebzeiten - in ihrer die ganze Daseinsstrecke wie eine lyrische Veranstaltung bedenkenden Sorgfalt - anachronistischen Person … eine Stadlerimagination vom gelungenen Menschen, von der ich mich deshalb nicht einnehmen lasse, weil sie so romantisch-romanhaft ist, einer lesbischen Abweichung vom Damenprogramm zum Trotz. Sie ging Roland mit unerreichbar gutem Beispiel voran. Er musste eine Landjugend absolvieren und sich verspotten lassen: für seine unbiedere Liebe zum Ballett und seine sexuelle Unentschlossenheit. Er läuft Gefahr, „die Gegenwart zu verpassen“; ein Schoßtier auf den Knien seiner unerheblichen Vergangenheit. Roland Nesensohn weiß noch nicht einmal „wie Eisbein aussieht“.

Mit schöner Ausführlichkeit leuchtet Stadler, der gern Papst geworden wäre, in die Verhältnisse seiner Protagonisten. Das Mädchen Rosemarie wächst in „Klein-Moskau“ zu Minden auf. Das ihr eingepflanzte Vertriebenenschicksal nimmt sie nicht an. Ein von klein auf sich selbst bestimmendes Wesen gestattet ihr Großes, schon im „Hasenstallviertel“ ihrer Kindheit. Das ist eine Gegenteilsprojektion auf Roland. Der Amerikaner füllt eine Rolle zwischen Polen aus.

Jim, halb heiliger Tramp, halb medikamentös gut eingestellter Weltprinz, ist nicht festgelegt auf ein Geschlecht. Er tritt als Fleisch gewordenes Happy End dieser Geschichte an ihrem Anfang auf. Sein Glück reicht jedoch nicht bis zu ihrem Ende. Sein Lebensweg führt ihn (im ersten, dem besonnten Anlauf) von den Appalachen via Miami und Italien in den Schwarzwald. Soweit besteht das Kolorit aus Hillbilly-Folklore, Sonnenbrillenschick, neapolitanischen Tumulten und den Fischern in ihren Booten … und aus irgendwas mit Tannenzapfen und Freiburger Besäufnissen.

Jim de Mariniello kehrt (vorübergehend) in das Land seiner Ahnen zurück. Das berührt ein ständiges Romanmotiv: Migrationsbewegungen, bei Jim verbunden mit einem in Amerika aufgeschnappten, italienischen Dialekt aus dem 19. Jahrhundert. Er geht mit Rosemarie und Roland ins Bett und schläft dann noch einmal mit Rosemarie, während Roland sich schlafend stellt. Dieser Sündenfall isoliert Roland. Unverzüglich fängt er an zu schreiben. Sein Buch könnte „Call me Jim“ oder „Ungewaschene Erinnerungen an die Liebe“ oder einfach bloß „Baby“ heißen. Roland versteht das Schreiben „als Rückzug aus dem Leben“ und „die Liebe als eine Unmöglichkeit“, später sogar „als eine womöglich todbringende Krankheit“. Allein verzieht sich Roland ins Himmelreich. Da kommt er her. Im (badischen) Himmelreich helfen sich Leute mit Sinnsprüchen: „Jeder Mensch braucht mehr Liebe, als er verdient“. Roland findet Trost in der Religion (wie Stadler, dem ein kolossaler, selbstverständlich katholischer Possenreißer als lieber Gott recht zu sein scheint). Dann ist man in Freiburg doch wieder zu dritt. Rosemarie wird schwanger (von Jim) und auch damit fertig. Eine Weile lebt sie mit ihren Männern zusammen, die sich in ihrer Abwesenheit von Pornohefte animieren lassen … bis der Sommer 1978 dem Herbst die Klinke in die Hand drückt und Jim sich mit ihm verabschiedet. „Komm, gehen wir“ endet elf Jahre später. Roland lebt in Berlin, von Rosemarie getrennt. Am Weltspartag des Jahres 1989 fliegt er nach Miami. Er hat sein Buch geschrieben.

 

Jamal Tuschick

 

Arnold Stadler: Komm, gehen wir. S. Fischer, Frankfurt/Main. 296 S., 18,90 Euro

 

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