7. Juni 2007

Damals in Antwerpen

 

Dieses große Spektakel, das an den gewaltigen szenischen Aufwand des dritten Bildes von Célines mimischem Ballett „Voyou Paul. Brave Virginie“ anschließt, spielt ebenfalls 1830. „Van Bagaden“ oder: Wie man den frühen Kapitalismus tanzt. So vielleicht könnte man dieses Ballett knapp charakterisieren, das zuerst 1938 in „Bagatelles pour un massacre“ veröffentlicht wurde, Célines erstem Pamphlet, das es zugleich abschloss. Wohl nicht ganz zufällig spielt es in Anvers (Antwerpen), früher einmal die reichste Stadt Europas. Die Diamantenbörse hat hier ihren Sitz, und die belgische Stadt kann sich rühmen, einen der, wenn nicht den bestausgerüsteten europäischen Containerhafen zu besitzen. Von den Kais, die insgesamt eine Länge von ca. 100 km haben, kann die Bühne freilich nur einen kleinen Ausschnitt präsentieren, aber der zeigt immerhin eine „unermessliche Halle“. Große Mengen an Lastträgern, Dockarbeitern, Zöllnern gehen ihrer Arbeit nach, es wird gekarrt, geschoben geschnitten, im Hintergrund der Halle lagern riesige Haufen Waren, Tee, Kaffee, Holz und was das Herz begehrt. In dem großen Durcheinander wird man irgendwann eine Gruppe von reizenden Arbeiterinnen bemerken, sehr ausgelassen, ziemlich kokett, mitten in den Massen schwitzender, hart arbeitender männlicher Kollegen. Die Parfümhändlerinnen probieren die Köstlichkeiten aus dem Orient, verbreiten sie und schauen doch besorgt auf die Ware. Sie balgen sich wegen der Fläschchen. Ihnen gegenüber, ebenfalls sehr kokett, die Zigarrenhändlerinnen, sie gackern herum, schnattern. Dazwischen die hart arbeitende Zunft, man könnte ganz gut an „Metropolis“ denken, die Prozession der „Starken“. Einige von ihnen schäkern nebenher mit den Hübschen, greifen nach den Zigarren, was großen Lärm auslöst, Streitereien. Tänze, zusammen. Durcheinander. Dazu dann noch der Heidenlärm vom Hafen und andere Musiken, Drehorgeln zum Beispiel. Ein Neger führt ein kleines wildes Zwischenspiel auf. Eingezwängt in eine Ecke gibt es noch etwas zu sehen. Es ist das Büro des Reeders, von der übrigen Halle abgetrennt durch einen riesigen Paravent. In dem Büro sitzt ein kleiner, zusammengeschrumpfter Mann, der Reeder, Van Bagaden. Er kann sich kaum bewegen. Dafür schreit, brüllt, flucht und droht er die meiste Zeit. Das meiste bekommt der arme Peter ab, seine rechte Hand, die keine ruhige Sekunde hat. Dauernd muss er rechnen, kalkulieren. Van Bagaden ist stinkreich, er hortet sein Gold, man nennt ihn den Tyrannen der Meere und der Seefahrer. Um seinen Kopf trägt er einen großen schwarzen Turban, der ihn vor Zugluft schützt. Den Lärm in der Halle hört er gar nicht gern, man arbeitet also nicht, nimmt ihn nicht ernst, er hat keine Autorität mehr. Er will sich herausreißen aus seinem Stuhl, aber das geht nicht. Dann schlägt er mit seinem Stock auf den Boden und Peter erschrickt. Peter kann nicht weg, er ist angekettet an seinen Stuhl. Er geht noch einmal die Rechnungen durch. Dann tritt ein Kapitän auf und flüstert Van Bagaden etwas ins Ohr. Ein weiterer Schlag auf den Boden, und Peter bekommt das Zeichen, den Schlüssel für sein Schloss zu nehmen. Gemeinsam mit dem Kapitän geht er durch die Halle. Großer Aufruhr, Geplapper, man wartet. Etwas später kommt Peter zurück, ein riesiges Netz im Schlepptau. Darin steckt ein fantastischer Edelstein. Von keinem lässt Peter sich helfen. Der Tanz der anderen ist unterbrochen, bis der Knecht bei seinem Meister angekommen ist. Der Edelstein verschwindet im Tresor. Dann kettet Peter sich wieder an. Bis der nächste Kapitän kommt und die gleiche Prozedur beginnt und schließlich der Höllenlärm der Halle wieder übernimmt. Dann hört man plötzlich eine sehr kriegerisch klingende Fanfare, vom Hafen. Sie nähert sich, geht vorbei. Man sieht die Kapelle am riesigen Portal entlangziehen. Im Hintergrund Soldaten, Matrosen, Betrunkene, eine aufbrausende, entfesselte Menge. Riesige flatternde Fahnen. Fantasiebanner. Kartonriesen, von der Menge getragen. Van Bagaden ist außer sich. Er hat sich nie amüsiert. Er hasst das Amüsement. Und ganz besonders die grobschlächtigen Farandolen der Kanaille. Er versucht sich von seinem Stuhl zu erheben, es tut sehr weh, aber er sieht immerhin ein bisschen, die ganzen delirierenden Hampelmänner. Dann schickt er Peter weg, hin zu dieser beleidigenden Sarabande, dass sie wieder an die Arbeit gehen, „nimm meinen Stock, Peter, schlag mir diese Taugenichtse zusammen, dass sie mir gehorchen!“ Das Fest aber wird noch lauter, und Peter ganz allein gegen die Menge, gegen diese Freude, diesen Wahnsinn, diese „maßlose Farandole“.

 

Dieter Wenk (02.07)

 

Céline, Van Bagaden. Grand ballet-mime et quelques paroles, in: Louis-Ferdinand Céline, Ballets sans music, sans personne, sans rien, Éditions de Pascal Fouché, Paris 2001 (Gallimard)

Pascal Fouché (Hg.), Céline, le progrès, suivi… – Fortschritt und andere Texte für Bühne und Film, zusammengetragen und vorgestellt von P.F., Merlin Verlag, 1997, 272 Seiten