31. Mai 2007

Ende immer noch nicht gut

 

Was in Frankreich „Paul und Virginie“, sind in Italien und England „Romeo und Julia“: ein klassisches Liebespaar, das letztlich nicht zueinander kommt. Während Romeo in zu großer Eile das Gift trinkt, verschmäht es in Jacques Henri Bernardin de Saint-Pierres Erzählung am traurigen Ende die tugendhafte Virginie, sich ohne ihre sie ja nur beschwerende Kleidung von einem starken Matrosen vom sinkenden Schiff sicher an Land ziehen zu lassen. Der am Ufer stehende Paul kann nur fassungslos zuschauen, wie seine Geliebte, selbst verschuldet, aber in tadelloser Haltung, vor der Küste ertrinkt. Es steckt viel Rousseauismus in Bernardin de Saint-Pierres Geschichte, veröffentlicht 1788 in seinen vierbändigen „Betrachtungen über die Natur“, aber die Tragik der Story liegt darin, dass durch ein Fehlverhalten gegen die unschuldige Natur das Glück der beiden zerstört wird. Das kann man falsche Schamhaftigkeit nennen. Céline hat wohl dieses peinliche Ende gar nicht gefallen. Sein mimisches Ballett in drei Bildern und drei Prologen beginnt mit einem Happyend. Bei Céline befinden sich beide, Paul und Virginie, auf dem sinkenden Schiff und werden von Wilden, nachdem sie auf den Strand gespült wurden, reanimiert. Es handelt sich übrigens um gute Wilde, die trotzdem recht wild tanzen. Die Wiederbelebung besorgt die Hexe des Stamms. Paul kann gar nicht genug von dem Zaubertrank bekommen, er tanzt und wird immer ausgelassener. Die schamhafte Virginie blickt betreten zu Boden. Szenenwechsel. Der Hafen von Le Havre, der Stadt, in die Virginie einst gefahren ist, um eine reiche Erbschaft anzutreten. Aber sie konnte Paul, mit dem sie unter der Herrschaft von Mutter Natur aufgewachsen war, nicht vergessen. Deshalb schickte man sie wieder zurück, zu ihrem Spielgefährten, aber sie konnten doch nicht mehr zusammen finden, ihr tragisches Ende, siehe oben. In Le Havre, so erzählt im zweiten Prolog die Klatschbase im Ballettröckchen, liest Virginies Tante Odile schon zum hundertsten Mal Bernardin de Saint-Pierres Erzählung über ihre Nichte. Man schreibt bereits das Jahr 1830. Die Hochzeit von Mirella, Virginies Cousine, und Oscar steht unmittelbar bevor. Im Salon der Tante hat man sich zusammengefunden, man albert, tanzt, alles aber im Rahmen der Konvenienz. Zwei alte Jungfern transponieren die Szene ins Karikaturhafte. In dem Moment, als man sich gerade in Ruhe hingesetzt hat, um Tante Odile bei ihrer Lesung von „Paul und Virginie“ zu lauschen, stürmt ein kleiner Bote, tanzend, in die gute Stube und vermeldet die Ankunft der „Sémaphore“: Paul und Virginie? Im dritten Prolog ist die charmante, aber etwas lächerliche Klatschbase nicht mehr alleine. Ihr Auftritt vollzieht sich unter der fast unmittelbar einsetzenden Kopräsenz mehrerer Ingenieure, die die Rampe ausmessen, um zu verifizieren, ob Platz genug ist, um „etwas“ passieren zu lassen. Von diesem Etwas hat den Leser bereits der Prolog in Kenntnis gesetzt, der nicht mehr in der völligen Herrschaft der berockten Person ist: Wenn am Schluss des Balletts der Vorhang fällt, hat der Zuschauer die Monumentalansicht einer apokalyptischen Maschine, deren Bild auf dem Vorhang aufgezeichnet ist und die man während des dritten Bildes schon kennen gelernt haben wird. Völlig verstört fragt die Klatschbase die Ingenieure, ob sie nicht wüssten, dass man auf Paul und Virginie wartet. Der Ingenieur und seine Assistenten verstehen nichts davon und machen einfach weiter. Das Röckchen ist ganz verwirrt, es flieht, die anderen machen sich über sie lustig. Das dritte Bild stellt die Kais eines Hafens vor, immer noch 1830. Es ist viel los, überall wird getanzt, Matrosen, Polizisten, Huren, Verkäufer. Das geht eine ganze Weile so. Auch ein Wal tanzt, ebenso ein Deutscher mit seiner dicken Frau, ihre zahlreichen Kinder fahren Tandem. Dann ein heiliger Elefant, tanzt natürlich auch. Dann sieht man eine Gruppe von Treidlerinnen, wie sie zunächst vergeblich versuchen, ein riesiges Schiff in den Hafen zu ziehen. Ob sie Paul und Virginie gesehen haben, fragt die Gruppe um Mirella. Die haben keine Ahnung. Dann ist das Schiff da. Bewegende Minuten, in maximaler Gefühlsstärke. Schließlich erscheinen Paul und seine Geliebte. Die Hexe ist natürlich auch dabei, mit ihrem infernalischen Getränk. Es kommt, was kommen muss. Nach der Begrüßung trinkt Paul, tanzt, auch die anderen trinken vom Trank, alles mischt sich, die Klassen und Berufe. Das Chaos bricht aus. Mittlerweile bilden Paul und Mirella ein laszives Duo. Sie ist fast nackt. Virginie schluchzt. Dann will Virginie, voller Verzweiflung, es Paul zeigen. Sie trinkt ebenfalls vom Zaubertrank, leert die ganze Flasche. Paul hat sie noch nie so gesehen. Er lässt Mirella stehen. Die wird sehr sauer, sie greift sich eine Pistole und erschießt Virginie. Kurze Stille darauf. Dann erneut wilder Lärm, aber von woanders her. Der Krach einer Lokomotive, genauer gesagt des Vorgängermodells aller automobilen Fahrzeuge, es ist der „Fulmi-coach“, eine Maschine aus Amerika, für die die Ingenieure jetzt Platz fordern. Die Menge beachtet schon gar nicht mehr Virginie, die Paul beweint, die Maschine kommt immer näher, die Menge ist völlig enthusiasmiert. Die Maschine zieht vorbei, die Menge geht mit, zurück bleibt Paul bei seiner toten Freundin. Ausgelassene junge Mädchen kommen zurück, ziehen Paul mit sich, das Leben sei kurz, es gehe weiter, er solle weiter trinken. Paul zieht mit. Ganz zum Schluss Virginie allein, nur ein kleiner Hund, Tante Odiles Piram, gesellt sich zu ihr. Vorhang, auf ihm sieht man, wie gesagt, die gigantische apokalyptische Maschine. „The Fulmicoach Transport Ltd.“. Dieses Ballett wurde zusammen mit zwei anderen zuerst in Célines erstem Pamphlet, „Bagatelles pour un massacre“ (1938), veröffentlicht.

 

Dieter Wenk (02.07)

 

Céline, Voyou Paul. Brave Virginie. Ballet-mime, in: Louis-Ferdinand Céline, Ballets sans music, sans personne, sans rien, Éditions de Pascal Fouché, Paris 2001 (Gallimard)

Pascal Fouché (Hg.), Céline, le progrès, suivi… – Fortschritt und andere Texte für Bühne und Film, zusammengetragen und vorgestellt von P.F., Merlin Verlag, 1997, 272 Seiten