23. Mai 2007

Der krächzende Holländer

 

Je nachdem, wo man die Götter aufsucht, geht es entweder himmlisch oder eher unterirdisch zu. Keine Frage, wohin man mit Céline reist. Er bietet uns mit diesem Ballett einen kleinen Einblick in den Haushalt Neptuns, der schließlich Venus geheiratet hat, es ist eine unwirtliche Gegend, um Neufundland, und dann auch noch 3472 Meter in der Tiefe. Es steht nicht gut um Neptun. Seine einstige Zuneigung zu Venus ist längst verflogen, trotz verzweifelter Versuche der eben auch in die Jahre gekommenen Frau, mit den bekannten Tricks ihre verlorene Attraktivität zu simulieren. Fast noch schlimmer sieht es mit der Allmacht Neptuns aus. In seinem unterirdischen Reich genießt er kaum noch Autorität, die Klagen vor allem der Seehunde bezüglich der Fanggelüste der Menschen und ihrer brutalen Methoden dank des wissenschaftlichen Fortschritts vermag Neptun nicht in Gegenstrategien umzusetzen. Die Schiffe sind zu groß geworden, als dass sie sich von dem bisschen Sturm Angst einjagen lassen würden, den Neptun entfacht. Nein, Neptun ist unfähig, in jeder Hinsicht, so die Megäre Venus. Das einzige, was Neptun noch erfreut, ist das Tanzcorps der Sirenen, vor allem die reizende und entzückende Pryntyl hat es dem Meeresgott angetan. Das bleibt auch der reizenden Gattin nicht verborgen. Auch die Sirenen nehmen vieles nicht mehr so genau wie früher. Natürlich stürzen sie noch die Menschen ins Unglück, indem sie sie von der Fahrtroute abbringen, aber sie haben schon lange damit angefangen, sich ein bisschen zu viel um die menschlichen Belange zu kümmern, was ihnen formell verboten ist. Sie lesen die Liebesbriefe ertrunkener Matrosen, all das dumme Geschwätz. Das nimmt Venus zum Anlass, um Pryntyl verhaften und vor Gericht stellen zu lassen, eine kleine Rache an Neptun. Unter einer Decke mit den Menschen! Hochverrat! Es hilft nichts, Neptun muss Pryntyl verurteilen, er bestraft sie, zu den Menschen zu gehen, sie zu studieren, um dann geläutert wieder nach Hause zu kommen. Währenddessen treibt der Kapitän Krog sein Unwesen. Er ist der wildeste der unbarmherzigen Jäger auf die armen Seehundbabys, das Gesicht eines Totenkopfes, nach dem millionenfachen Mord tanzt die Crew den „Tanz des Massakers“. Neptun ist nicht untätig, aber auf seine Weise, er unterhält mittlerweile ein Schattenkabinett, um in Erfahrung zu bringen, wo seine geliebte Sirene steckt. Le Havre. Ein gut gebautes Weibchen geht frühmorgens die Straßen entlang. Victor, ein Strolch, spricht das unerfahrene Mädchen an, es kommt, wie es kommen muss, die arme Pryntyl gerät in schlechteste Gesellschaft, wird von ihrem „Freund“ ausgebeutet, muss tanzen, spielt Animierdame, kommt total herunter. Der ganze Schmuck, den ihr ihr guter Gott mitgegeben hatte, ruht bereits im Tresor des „Wäschers“ Ben Azouf. Natürlich bekommt Neptun alles erzählt. Er ist völlig deprimiert. Schließlich macht er sich auf, Pryntyl beizustehen. Aber auch sein Aufenthalt in Le Havre endet in einer Katastrophe, er landet im Gefängnis, und nur dank seiner göttlichen Kräfte gelingt es ihm wieder, auszubrechen und zurück ins nordische Packeis zu fliehen. Ganz zum Schluss bittet er seine Geliebte, in Zukunft doch ein bisschen klüger zu sein. Auf jeden Fall ist Pryntyl keine Attraktion mehr, Alkoholikerin, Strichmädchen, aber irgendwie gelingt es ihr, die Sympathie eines Offiziers eines Schiffes zu gewinnen. Er soll sie mitnehmen, befreien. Es ist ausgerechnet ein Leutnant der „Orctöström“, die der schlimme Kapitän Krog befehligt. Dieser ist vor der nächsten Fahrt dazu entschlossen, das ganze Volk der Seehunde zu massakrieren, wenn es sein muss; das kostbare Öl. Dann geht es los, mit dem blinden Passagier. Immer Richtung Norden. Aber irgendwas ist nicht normal auf dem Schiff, seltsame Klänge. Der Kompass spielt verrückt. Der Motor geht nicht mehr richtig. Unterdessen ist Pryntyl wieder eine sehenswerte Sirene geworden, die Zeit der Prüfung ist vorbei. Dem Kapitän schwant etwas. Er sucht überall, und dann steht er der schönen Gestalt gegenüber, aber was macht er nur, er stürzt sich auf sie und erschlägt sie brutal. In diesem Moment ertönt ein tragisches Geschrei im ganzen Meer, in der Luft, ein tragischer Gesang, eine wütende Symphonie der Sirenen. Das Schiff sinkt sofort, steigt hinab in die Tiefen des Meeresgrabens. Neptun spaßt nicht länger. Er wird dem Kapitän das Singen beibringen. Kein fliegender, ein singender Holländer, oder eher ein krächzender Holländer, wild schaukelnd auf Bojen, zum Unsegen der seefahrenden Menschheit. Neptun wird modern, er lässt nicht mehr Wellen schlagen, er kümmert sich jetzt um die anderen Wellen, den drahtlosen Funk, den er durcheinander bringt. Überall wird untergegangen, ertrunken, die Fische und das ganze Meeresvolk fangen erneut an, Neptun zu bewundern, aber er selbst ist gebrochen, seine Liebste erschlagen, ein unrettbarer Melancholiker. Auch Venus strengt sich wieder an, will Neptun gefallen, sie bekommt sogar einen Zaubertrank, der Neptun gefügig machen soll, allein er flieht sie, trinkt lieber in der „Bar der Ertunkenen“, lässt sich Karten legen. Und oben, auf dem Meer, treiben die Bojen mit Kapitän Krog und seinen Mannen, die neuen Sirenen, oder sind es die alten? Céline präsentierte das Ballett „Scandale aux Abysses“ als Inhaltsangabe (ca. 50 Seiten) für einen Trickfilm. Außerdem hätte er gerne gewollt, dass es für das Kino bearbeitet wird. Die Zeit, in der er es veröffentlichen wollte, 1944, war natürlich äußerst schlecht. Erst 1950 kam es zu einer Publikation. Sicherlich lädt dieser Text ein, ihn gewissermaßen als Schlüsselballett zu lesen. Das, was sich hier im mythologischen Gewand zuträgt, ins Politische der Gegenwart zu transponieren. Oder, was genauso nahe liegt, ins Ewig-Unmenschliche als nur Allzumenschliches: Zivilisationskritik (ohne stützende Gegenkonstruktion), die Dummheit, Gewalttätigkeit, Unbelehrbarkeit, Primitivität der Menschen. Aber es geht hier auch um die Sache der Kollaboration mit dem Feind und um die Möglichkeit der Wiedergutmachung, Pryntyls Reise zu den Menschen quasi als „re-entry“, als Wiedereintritt in die Welt mit anderen Voraussetzungen. Die Kunst aber, den Gesang, das Übermenschliche des Schönen vertragen die blöden Menschen nicht. Aber auch: Sie lassen sich noch vom letzten Dreck, dem „Kruack, Kruack“ des Kapitän Krog, verarschen. Ein letzter Skandal aus dem „Tiefseegraben“: dass er noch nicht verfilmt wurde. So bliebt bis auf Weiteres inneres Kino.

 

Dieter Wenk (02.07)

 

Louis-Ferdinand Céline, Scandale aux Abysses, in: Ballets sans music, sans personne, sans rien, Éditions de Pascal Fouché, Paris 2001 (Gallimard)

Pascal Fouché (Hg.), Céline, le progrès, suivi… – Fortschritt und andere Texte für Bühne und Film, zusammengetragen und vorgestellt von P.F., Merlin Verlag, 1997, 272 Seiten