21. März 2007

Aus dem Nähkästchen

 

Die 30 hier versammelten und geschilderten Gaunerstücke hatte sich der Verfasser nicht ausgedacht. „Nach gedruckten und handschriftlichen Quellen“ gab er sie vielmehr heraus. Chamissos eigenes Bravourstück ist nach wie vor sein „Peter Schlemihl“, diese unglückliche Gestalt, die ihren Schatten verkaufte, aufgrund dieses Mangels sozial ausgegrenzt wurde und aus der dadurch sich ergebenden Einsamkeit schließlich doch noch Kapital schlug durch ihre Art der „Vermessung der Welt“. Kapital hier verstanden eher im Sinne von Beuys als von Marx. Um ganz krudes Geld geht es in Chamissos Gaunerbuch, 1836, also zwei Jahre vor seinem Tod, in Sondershausen erschienen und seitdem nicht mehr aufgelegt – man wusste einfach bis vor kurzem nicht, dass es dieses Bändchen überhaupt gab. „Die Gauner“ sind kein moralisches Buch. Nicht, dass der Autor direkt zur Gesetzesübertretung aufforderte, aber es findet sich an keiner Stelle ein Wort der Belehrung, sei es dem Leser oder dem längst verurteilten Verbrecher gegenüber. Diese gibt es in allen sozialen Schichten, allen Ländern (der Schwerpunkt liegt hier jedoch eindeutig auf England, dem Land, das dem Gaunerwesen die größte Aufmerksamkeit zollt und das die raffiniertesten Verbrecher hervorgebracht hat, so der Autor) und allen Religionen (die meisten der präsentierten Gaunereien stammen von Christen, zwei, drei von Juden). In allen Stücken geht es gleich zur Sache, die oder der Täter, das Opfer, die Technik, wie man sich in den Besitz einer fremden Sache begibt, entweder als Standard oder aus dem Stegreif, wie die Situation es gebietet. Es geht hier also sehr anekdotisch zu, was die Lektüre sehr kurzweilig macht. In vielen Geschichten gehört die Sympathie mehr oder weniger den Bösewichtern. Sie scheinen oft die Einzigen zu sein, die denken und nachdenken. Die spontan auf eine Situation reagieren können, um aus ihr Gewinn zu ziehen, auch wenn dieser Gewinn nicht legal ist. Die Gauner sind Strategen, haben und halten den Überblick, wissen ziemlich gut ihre Mitmenschen einzuschätzen, vor allem natürlich ihre Schwächen (Eitelkeit, Geschwätzigkeit), und nutzen diese gnadenlos aus. Das Risiko? Dass sie später am Galgen hängen werden. Die wenigsten Kniffe wird man auf die heutige Zeit übertragen können – man reist heute nicht mehr mit Pferden oder Postkutschen, die Kommunikationsverhältnisse haben sich mit Telefon etc. grundlegend gewandelt, aber gleichwohl werden auch heute Opfer mit entsprechenden Mitteln betäubt, wozu man natürlich kein „Diachylonpflaster“ mehr verwendet. Sehr sympathisch jene Geschichten, in denen die Gauner aus dem Nähkästchen plaudern, und zwar just ihren Opfern gegenüber, denen sie das sportive Moment ihres Berufslebens vorführen. Ohne dass das Wort fällt, wird an einer Stelle auch schon, natürlich von den Gaunern, Kapitalismuskritik geübt, wie überhaupt in vielen Anekdoten etwas Robin-Hood-haftes steckt, mit dem als Erzgauner die Geschichten auch einsetzen. Gauner haben sehr wohl ein Gespür für soziale Gerechtigkeit, aber ohne die immer wieder von der Wirklichkeit eingeholte Voraussetzung, dass die Welt betrogen werden will, gäbe es wohl nicht so viel Lust an der Übertretung.

 

Dieter Wenk (03.07)

 

Adelbert von Chamisso, Die Gauner. Galerie der pfiffigsten Schliche und Kniffe berüchtigter Menschen, hg. und mit einem Nachwort von Gerd Schäfer, Berlin 2007 (Matthes & Seitz Berlin), 156 S. geb. mit Schutzumschlag € 16,80

 

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