7. März 2007

Ende des psychologischen Romans

 

Vor der Erfindung des Mediums Film eignete sich wohl kein künstlerisches Medium so gut zur Diskussion anderer künstlerischer Medien wie die Literatur. Eine andere Frage ist, ob, und wenn, wie das Resultat einer solchen Diskussion auf das eigene Medium, in diesem Fall also die Literatur, zurückschlägt. In diesem Mitte der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts, ziemlich zeitgleich mit „Anna Karenina“, erschienenen Roman betrachten Vater Wersilow und Sohn Dolgoruki die Fotografie von dessen Mutter. Das Foto hat ein ungewöhnliches Format, und nimmt man noch den prächtigen, mit Schnitzerein verzierten Rahmen hinzu, denkt man vermutlich zunächst an ein Portrait von Künstlerhand. Der Sohn, der das Foto bei seinem Vater sieht, ist beeindruckt, und erstaunlich für unsere heutigen Augen sind die Gründe, die dieser anstelle seines Sohns dafür angibt. Es geht nämlich um Genauigkeit, aber nicht um die Genauigkeit der Oberfläche, sondern um eine Genauigkeit, die man kaum sehen, sondern nur spüren oder evozieren kann. Das Foto hat also eine „ungewöhnliche Ähnlichkeit, eine sozusagen geistige Ähnlichkeit – mit einem Wort, es wirkte wie ein echtes Portrait von Künstlerhand und nicht wie eine mechanische Kopie.“ Auch 30 Jahre nach Erfindung der Fotografie ist diese alles andere als anerkannt als eigenständige künstlerische Form; nach wie vor bewegt sie sich im Schlepptau der über ihr thronenden Malerei, die immer noch das Privileg genießt, in einem transformatorischen Akt das Wesentliche, das Original zur Anschauung zu bringen, auch wenn dieses gar nicht zu sehen ist. Diese Paradoxie strukturiert bis ins 20. Jahrhundert das Sprechen und Schreiben über den Zusammenhang von Malerei und Fotografie in ihrem Verhältnis zur Wirklichkeit. Vater Wersilow entschärft diese Paradoxie, wenn er zu Bedenken gibt, dass selbst im wirklichen Leben jeder einzelne sich nur selten ähnelt: „Das Original, also jeder von uns, gleicht sich selbst überaus selten. Nur in Augenblicken drückt das menschliche Antlitz seinen Hauptwesenszug aus …“ Das hieße aber, wenn der Fotograf die Gunst der Stunde nutzen würde oder ein snapshot ihm zu Hilfe käme, dass auch er das Original erhaschen könnte, auf dessen Gegenwart nach Wersilow der richtige Künstler nicht zu warten braucht, da der den Wesenszug erahnen kann. Seltsamerweise hätte man dann aber zwei Originale, nämlich das geglückte Foto und das geniale Gemälde, vor denen stehend man sich natürlich erneut fragen kann, wie es denn mit Original und Abbild oder Kopie aussieht. Diese Frage lässt sich nicht ein für allemal beantworten, sondern wir beantworten sie heute anders als noch vor 150 Jahren, als die Fotografie noch die Magd der Kunst war. Mehr noch, wir stellen diese Frage nur noch ironischerweise, weil wir gemerkt haben, in welche Fallen wir treten können, wenn wir ein Medium gegen ein anderes ausspielen wollen, ohne die Eigenheiten des jeweiligen Mediums mit zu berücksichtigen. Die Fähigkeit, ein Original in welchem Medium auch immer zu bannen, scheint überdies heute nicht mehr glaubhaft. Dass diese Fähigkeit aber bereits im literarischen Medium damals schon an der Darstellung zerbrach, dafür gibt dieser scheinbar unordentlich erzählte Roman ein gutes Beispiel. Vielleicht ist es also keineswegs Koketterie seitens des Erzählers, die Geschichte eine bloße „Aufzeichnung“ zu nennen. Diese Aufzeichnungen liefern uns kein geschlossenes, mit einem Rahmen versehenes Bild. Wir nehmen viele Einzelheiten auf, werden zeitlich hin und her geworfen, und am Ende sind wir völlig unfähig, eine Idee dieses Romans auszudrücken, wie ja auch die „Idee“ des Jünglings in nichts zergeht. Kein Wunder, dass auch der am Ende des Romans formulierte „höhere russische Gedanke“, nämlich die Aussöhnung aller Ideen miteinander“, ein leerer Gedanke bleibt. Jede anschauungsreife Präsentation verdankt sich in irgendeiner Weise einer Abstraktion. Und weil in diesem Roman, ob bewusst oder nicht, an vielen Stellen gerade nicht abstrahiert wird, liest er sich entweder gar nicht oder wie eine Parodie auf die Form, die von sich weiß, oder doch ahnt, dass die Fotografie vielleicht doch nicht so harmlos und mechanisch ist wie hier noch selbstbewusst konstatiert. Hier beginnt auch schon der Abgesang auf die Psychologie der Figur. Denn wenn die Psychologie wirklich Ernst genommen wird, dann ist kein Land in Sicht. Die Romane werden zwar immer dicker, aber sie zeigen nur mehr, dass auch das nicht mehr reicht. Ein paar Jahrzehnte später weiß man, warum das so ist.

Anmerkung zum Verhältnis von Malerei und Fotografie: Gleich zu Beginn seiner „Kleinen Geschichte der Photographie“ kommt Walter Benjamin auf das prekäre Verhältnis dieser beiden Abbildbrüder zu sprechen, um auf die Aporie aufmerksam zu machen, auf die die sich auf Gottunmittelbarkeit berufende Malerei stößt. Die angebliche Überlegenheit des in reicher Innerlichkeit verfassten Briefs an den Busenfreund über die technizistisch beschriebene E-Mail der heutigen Kommunikationswelt prä-produziert sich schon damals als genialer Überschuss des Bilds gegenüber der bloßen Mechanik des Fotos. Menschliches Leben fotografisch festhalten zu wollen wurde in diesem Abwertungsvorgang als entweder unmöglich bezeichnet oder, da man das Foto dann doch nicht leugnen konnte, als Gotteslästerung. Das Argument des Goldenen Kalbs oder des protestantischen Bilderverbots. Die einzige Zugabe, die man zu machen bereit war, richtete sich an den göttlichen Künstler, der jedoch nicht romantisch-interessant gedacht wird, sondern als angeschlossen an die himmlische Eingebung. Der höhere Befehl führt den Pinsel des Malers, technische Mittel sind hier so unnötig wie unerwünscht. Benjamin fasst den noch ein letztes Mal in den Bereich der allerdings noch längst nicht etablierten Fotokunst einbrechenden Kanon der menschlichen Gottesebenbildlichkeit freilich nicht als Schwanengesang eines nicht mehr aufrechtzuerhaltenden Erbes, sondern als nackte Ideologie, mit der sich jedoch, wie das später Marshall McLuhan als Identifikationszwang neuer mit alten Medien versteht, Fotografie als die neue Form der Repräsentation auseinander zu setzen hat. Umso leichter fällt es dann den alten Recken, dem Foto eben den Überschuss abzusprechen, den angeblich das Gemälde unmittelbar zur Erscheinung bringt. Und letztlich huldigt noch ein Flaubert diesem Verständnis von Kunst, das durch die Setzung des „richtigen Worts“ den Produzenten, der es fand, überflüssig macht. Die Subjektivität ist nur so lang am Ball, als sie sich selbst abschaffen kann, um hinter dem „richtigen“ Werk zu verschwinden. Diese Ästhetik fing an, mit der Fotografie zu Grunde zu gehen.

 

Dieter Wenk (01.03)

 

Fjodor Dostojewski, Der Jüngling, Berlin und Weimar 1994 (Aufbau)