9. Februar 2007

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„Ich lese ausschließlich Weltliteratur.“ Man kann sich zwar gut einen Snobisten oder einen Dummkopf vorstellen, der einen solchen Satz äußert, aber es wäre nicht klar, welche Literatur gemeint sei. Vielleicht ist Weltliteratur an einer Hand abzählbar, und mit Homer, Dante, Ariost, Erich Kästner und Luise Rinser hätte man seine Lesepflicht geleistet. Vielleicht ist aber auch gemeint, man müsse auch alle Autoren Ozeaniens berücksichtigen, weil die eben auch zur Welt gehören. Der obige Satz müsste dann heißen: Ich lese alles. Der Herausgeber des „Metzler Lexikon Weltliteratur“ lässt sich glücklicherweise gar nicht erst auf eine Diskussion ein, was denn nun Weltliteratur sei und wie genau die Kriterien zur Etablierung eines entsprechenden Kanons hießen. Man kann sich die gut nachvollziehbare Auswahl ganz gut vorstellen, wenn man sich daran erinnert, wie die Erdteile und Kontinente bei der Fußballweltmeisterschaft vertreten waren. Relativ zahlreich waren europäische und südamerikanische Mannschaften, Asien, trotz unbestreitbarer numerischer Überlegenheit an menschlichen Exemplaren, durfte nur wenige Equipen anreisen lassen. Das Zauberwort heißt also Verteilungsschlüssel, und bei einer Anzahl von über 1000 Autoren und anonymen Werken, die in diesem Lexikon für Weltliteratur stehen, ist es tröstlich, dass die große Unkenntnis an Namen bedeutender Autoren, wie regional auch immer ihr Einflussbereich ist, für den Leser nicht erst jenseits des Mittelmeeres oder hinter dem Kaukasus beginnt, sondern schon im alten Europa. Man kann es auch anders sagen: Viele Autoren, die man kennt und mag, die wohl auch nicht die schlechtesten sind, findet man hier nicht. Aber diese Bemerkung soll nicht als Auftakt unnötiger Larmoyanz dienen, sondern nur auf die Unerbittlichkeit von Schlüsseln aufmerksam machen. Spätestens seit Kafka wissen wir, dass jeder sein eigener Türhüter ist, ob er passiert oder nicht. Das Wort „Literatur“ korreliert das Lexikon näher mit dem Schriftsteller als mit dem Dichter. Man findet also auch – übrigens sehr ausführliche – Artikel etwa zu Aristoteles, Platon und Abélard (nicht aber zu Spinoza, Kant oder Derrida). Schade nur, dass man bei Abélard fast nichts über den Briefwechsel mit Heloisa erfährt. Interessant, dass sogar Filmregisseure aufgeführt sind (Pasolini) und Zeichentheoretiker wie Roland Barthes. Keine Frage, dass auch die Bibel, die Kabbala, der Koran und das Kamasutra vorgestellt werden. Den zahlreichen Autoren des Lexikons hat man freigestellt, ihre Artikel im Präsens oder in der Vergangenheit zu schreiben, auch die Art und Weise, wie zu dem jeweiligen Lemma Bezug genommen wird, ist methodisch offen. D. H. Lawrence gibt es zum Beispiel auf poststrukturalistisch, die allermeisten Einträge lesen sich jedoch so, dass die Methode nicht im Vordergrund steht; im weiten Sinn geht es um das, was man in Frankreich „l’homme et l’oeuvre“ nennt, also eine parallele Information zu Leben und Werk, ohne das letztere aus dem Leben extrahieren zu wollen. Wer einmal anfängt, in diesem Lexikon zu schmökern, der wird so schnell nicht mehr aufhören; das liegt einmal daran, dass die Artikel in der Regel gut und dicht geschrieben sind, aber natürlich darf man auch seine eigene Leserneugierde nicht unterschätzen, und so lässt man sich gerne darüber unterrichten, dass Romain Gary mit Jean Seberg verheiratet war, Gogol an Nahrungsverweigerung starb, der Vater Heinrich Himmlers der Griechischlehrer von Alfred Andersch war und Balzac in ca. 20 Jahren 90 Romane schrieb.

(Im Artikel zu Vasilij Aksënov wird einmal das Apollinische mit dem Dionysischen als „Prinzip der Ekstase“ im Sinne Nietzsches verwechselt, im Artikel zu Akutagawa Ry_nosuke macht die Autorin von dem in Deutschland ganz unüblichen Verfahren Gebrauch, Namen bekannter Japaner wie des Filmregisseurs Akira Kurosawa scheinbar korrekt zu notieren, also erst Nachname, dann Vorname, was zu Kuriositäten führt wie: „… Vorlage für den Film Kurosawa Akiras…“.)

Das Lexikon liegt – alphabetisch nach Autorennamen geordnet – in drei Bänden vor, die Artikel haben eine Länge von etwa eineinhalb bis zehn Spalten, die Hälfte der Beiträge stammt aus anderen bereits bei Metzler erschienenen Lexika. Eine große Fundgrube, auf insgesamt 1500 zweispaltigen Seiten.

 

Dieter Wenk (01.07)

 

Axel Ruckaberle (Hg.), Metzler Lexikon Weltliteratur. 1000 Autoren von der Antike bis zur Gegenwart, Stuttgart, Weimar 2006 (Metzler), XXVII, 1487 S., 3 Bände im Grauschuber, 129, 95 €

 

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