5. Februar 2007

Deutschland zwischen den Zeiten

 

Das Jahr 1953 in Deutschland muss man sich als ein Niemandsland vorstellen: Die so genannte Nachkriegszeit ist vorüber, jedenfalls wenn man über die noch teilweise bis in die späten 60er Jahre hier und dort herumstehenden Trümmer ebenso hinwegsieht wie über die allenthalben an Straßenecken bettelnden Kriegsversehrten – das Wirtschaftswunder deutet sich kaum an. Entsprechend weiß niemand so recht, wohin die Reise gehen wird.

 

In diesem Land, es ist Winter, unternimmt einer eine nur halb freiwillige Reise. Sie hat sich ihm aufgedrängt, nachdem er auf krude Weise vom Tod eines lange verschollen geblauten ehemaligen Schulkameraden und einstigen Weggefährten erfahren hat: Der da reist, ist Pathologe, er ist so alt wie das Jahrhundert, nämlich im Jahr 1900 geboren, hat also den Ersten ebenso wie den Zweiten Weltkrieg miterlebt. August Brenner heißt er und wurde noch an den Universitäten des Dritten Reiches ausgebildet. Inzwischen ist er selbst Professor, leitet Sektionen vor seinen Studenten. Und als Brenner eines Morgens verspätet in den Sektionssaal tritt, wird vor ihm die Leiche seines Mitschülers und Ex-Kommilitonen Heinrich seziert.

 

Das kann selbst einen mit Formalin-Gestank und mit dem Tod insgesamt bestens vertrauten Menschen aus der Bahn werfen, zumal er seinerseits, wie der Leser aus Andeutungen über einen medizinischen Befund erfährt, mit dem Tod zu ringen hat – August Brenner bricht aus. Er hat sich die Habseligkeiten seines toten Freundes aus einem Asyl besorgt, das geliehene Auto seiner Geliebten bringt ihn von Hamburg aus ein erstes Stück weit durch das kalte Land. Er hat entdeckt, wie tief die gemeinsame Vergangenheit die unterschiedlichen, aber beide Male vom Tod bedrohten Existenzen geprägt hat – er sucht den Nazi-Mediziner, bei dem er seine Ausbildung genossen hat. Der seine „Präparate“ im Einverständnis mit dem Betrieb von KZs erhalten hatte und als „Wissenschaftler“ aktiv an der Euthanasie teilhatte.

 

Diese Quest erzählt Meinrad Braun, der damit seinen Debüt-Roman vorlegt, in einer ruhigen, dabei hohe Dichte herstellenden Kraft. Die Zeit, die einst Wolfgang Koeppen in seiner berühmten Roman-Trilogie brillant ins Auge gefasst hatte und vor einigen Jahren von Thomas Hettche in seinem „Fall Arbogast“ eher aus Versatzstücken illustriert wurde, wird bei Meinrad Braun nachgerade riechbar. Je weiter die Winterreise von Brenner sich verlangsamt, weil er vom Auto auf die Bahn, von der Bahn auf Schusters Rappen umsteigt, besser herabsteigt – je schwieriger diese Wanderschaft wird und sich in die Niederungen des genau werdenden Blicks einlässt, desto reicher an Begegnungen wird sie. Wie in einem E.T.A. Hoffmann’schen Panoptikum führt Meinrad Braun den Leser durch Zusammenkünfte mit Geschlagenen und Schlägern, mit Altvorderen und Ausreißern in eine fantasiereiche Zukunft, mit Kriegsgewinnlern und Sichdurchwurstlern. Eine ehemalige Lehrerin sucht er auf, die der Liebesfähigkeit der Menschen nicht weit traut, aber umso sympathetischer von einzelnen spricht. Seine und Heinrichs vormalige Große Liebe besucht Brenner, die aber in einem Erinnerungskokon in eine vermeintlich bessere, heißt auf ihrem Landgut: „arischere“ Vergangenheit als herrische Klavierlehrerin eingewoben bleibt. In einer Tankstelle werden die Möglichkeiten privater und privatwirtschaftender Existenz im Schatten der alten und neuen, nun amerikanisch orientierter Lebensformen ahnbar. Bei einem Schrotthändler teilt der ehemalige Pathologie-Professor die Armut provisorischer Behausungen und notdürftiger Versorgungen. Zwischen den Wagen eines nächtlichen Zirkus stürzt August Brenner in die Unbehaustheit nicht nur der fahrenden Artisten-Existenzen ...

 

Das alles ist von großartigen Figuren bewohnt, die man nicht so schnell vergessen wird. Und der Roman ist von Dialogen durchzogen, die wie winterliche Atemfahnen kühl bleiben, aber dennoch ganze Reihen von Lebensentwürfen transportieren – und in den aufspringenden Abgrund einer gigantischen Mangelwirtschaft kippen.

 

Was einen als Leser hierbei am meisten aufwühlt, ist, dass nicht ständig ein allgemeiner Hunger herausgebrüllt wird von diesen Figuren, dass die physische Armut ebenso wenig wie die Hoffnungs- und Ideen-Leere nicht permanent zum Himmel schreit: Einmal begegnet Brenner im Zug einem Erfinder, der das gesamte Mittelmeer zum futuristischen, alle Versorgungsprobleme auf einen Geniestreich hin auflösenden Stausee verwandeln will und hierfür Investoren, „am besten Amis“, sucht. Zwischen solchen Phantasmen, die kaum weniger faschistoid herrenmenscheln wie das acht Jahre vorher gestürzte Regime, und dem allgegenwärtigen Sich-Abfinden gibt es offenbar nur wenige, Einzelne, die auf der Suche sind.

 

Brenners Begleiter ist, neben einem ganzen Röhrchen Schlafmittel und Heinrichs Pappkoffer, eine Schallplatten-Aufnahme von Franz Schuberts „Winterreise“, die dem Roman den Titel, aber auch die kühne Romantik beigibt. Das ist Aufbruch und Steckenbleiben in einem, das ist Aufgreifen eines Sturm und Drang, den Brenner in seiner studentischen Jugend erlebte, dann ablegen zu müssen meinte und nun zu beleben sich müht. Das ist Moderne mit hinreißenden Klangfiguren, aber zugleich Korsett aus Selbstverständlichkeiten des Althergebrachten. Man muss sich Schuberts Musik ohne die Lied-Texte von Müller vorstellen, um einen Begriff von diesem Aufwallen und Ausbrechen bei gleichzeitigem Verharren und Stillstand im Vertrauten, Vormodernen zu machen. Und man kann nicht anders, als Meinrad Braun hohe, sich erzählerisch ausprägende Musikalität zu bescheinigen.

 

Am Ende steht Brenner seinem ehemaligen Lehrer und Nazi-Mediziner gegenüber, der noch immer vom Auftrag des Herrenmenschen doziert und erneut die Staatsmacht auf seiner Seite hat, die den mittlerweile zerlumpten und zum desolaten Subjekt verkommenen Brenner in Gestalt zweier Gendarmen abführt. Ganz am Ende indes führt Meinrad Braun seinen Leser in eine zwielichtige Zwischenwelt, wie sie Hoffmann’scher nicht sein könnte. Der Schluss des Roman lässt nämlich offen, ob diese ganze Reise und Suche nicht in einem Narkose-Traum von Brenner phantasiert war. Dann wird alles gut mit der Welt, jedenfalls der deutschen anno 1953, dann auch ist Brenner wohl vor seiner Krankheit gerettet – dann aber auch lasten die Erinnerung an den aufgegebenen Freund Heinrich und die hingenommene Gegenwart umso mächtiger auf August Brenner.

 

Toni Morheimer

 

Meinrad Braun: Winterreise, 176 Seiten, Dielmann Verlag 2006, 19 Euro

 

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