3. Februar 2007

Gliedverlust od. Der Wurmfortsatz der Liebe

 

Diesmal erzählt Wilhelm Genazino die Geschichte eines beruflich aufsteigenden „Rechenknechts“, dem zugleich das Eheglück abhanden kommt. Der geübte Leser erkennt in „Mittelmäßiges Heimweh“ durch alle Verblendungen eine Lebenslauffortschreibung des Autors. Von jeher erfindet Genazino unauffällige, von Peinlichkeitsregungen regierte Angestelltentypen, die ihren Urheber gleichermaßen verbergen und offenbaren. Eine Liebesgeschichte hat ihn Frankfurt entfremdet; ihr Ende scheint mit seiner Rückkehr zu koinzidieren. Das Vage dieser Äußerung verbirgt eine Gewissheit. Genazino macht keine großen Sprünge. Seinem Alter Ego gestattet er kaum Eifersucht, als die im Schwarzwald lebende Ehefrau das Eingeständnis eines Verhältnisses mit einer Aufkündigung der Ehe verbindet. Nun kommt die Tochter nur noch zu Besuch. Der Vater geht mit ihr in den Zoo, auf den Rummel. Sonst bleibt er in der Menge für sich.

Der Leser folgt dem Freizeitstromer ins Bahnhofsviertel. Als Bordellbesucher wird Dieter Rotmund zum Betrüger. Wie viele seiner Vorgänger droht er „zu vereinsamen“. Selbst das gelingt nicht richtig. Immer steht eine Frau Grünwald oder eine Frau Schweitzer bereit ... mit viel Verständnis für den unbeholfenen Mann. Die permanente Verlegenheit des Ich-Erzählers zieht sie an. Ab Seite 81 kann man ihn mit dem Titel Finanzdirektor ansprechen. In der Zwischenzeit ist ihm ein Ohr und ein Zeh abgefallen.

„Die Katastrophe wird sofort Alltag“, sagte der Autor in einem Interview. Entsprechend schwach sind die Verlustempfindungen des Herrn Rotmund. Allenfalls fürchtet er „medizinischen Gewahrsam“. Er stellt fest: „Die ruhige Betrachtung unfähiger Menschen bringt Versöhnung hervor.“ Ihn erschüttert immerhin die Überschaubarkeit seines Lebens: „Jeden Tag muss der Mensch nach Hause gehen. Grauenvoll!“ Man ahnt aber, wie beruhigend Genazino die Temperamentlosigkeit der Verhältnisse seines Helden findet. Er vermisst sie als versierter Beobachter auf der Höhe seiner Möglichkeiten.

 

Jamal Tuschick

 

Wilhelm Genazino: Mittelmäßiges Heimweh, Hanser 2007

 

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