22. Januar 2007

Surreale Weltvision?

 

Johannes Weinberger schreibt. Und schreibt. Ich lese. Und lese. Aber was schreibt er? Ich verstehe nichts. Ich verstehe die Worte nicht, ich verstehe nur ihren Klang. Ist es das? Die Sätze in der ersten Textanlage „Hinter dem Sichtbaren“ ergeben keine Geschichte. Oder doch? Sie sind kurz, die Szenen wechseln oft. Zu oft? Es zieht. Mal nach da, mal nach dort. Wo kommt man an, wo will der Text hin? Mit sich, mit Weinberger, mit dem Leser, mit dem Erzähler? Um was geht’s? Um die Versprengung der Lesewirklichkeit? Um die Zerstörung einer Projektionsfläche? Um die Zersetzung einer erzählerischen Leitung? Ja? Nein? Keine Ahnung? Möglich ist beides. Alles drei. Vielleicht. Unter anderem: Es wird ein Pferd verbrannt. Der Schwanz wird angezündet. Das kommt in den besten Familien vor. Soll es doch. Von mir aus. Stiefelwachs, Telefon, Schmetterling, Wohnung ... das sind weitere Worte, die thematisch umkreist werden. Ist der Text ein Labyrinth, in das man weder hinein- noch herausfindet? Etwas verschiebt sich, auf Passagen wird zurückgegriffen. Ein Arrangement ist auf den ersten Blick nicht erkennbar. Oder doch? Wer weiß ... hm hm ... Vielleicht soll man dieses Buch zweimal lesen. Dreimal, viermal, achtmal. Vielleicht liest man nur einzelne Sätze zuende. Vielleicht hebt man sich ein paar Sätze fürs Abendessen auf (zum Beispiel: „Im Traum verschlug es mich an ein Minzmeer.“). Vielleicht liest man aus diesem Buch in der nächsten Woche einen Ansatz heraus. Vielleicht erzählt jeder Buchstabe die Geschichte des Staubs? „Eines Nachts (und es war ja immer Nacht für uns) endete die Wand, und wir stürzten haltlos zu Boden.“ Das ist es. Ja? All das ist zu viel und zu wenig und entspricht darin genau dem, was ich momentan fast überall erkenne: Das Verschwinden von etwas, an das man sich halten kann. Ein Ruf der Zustände totaler Unsicherheiten, verschwommener Absichten, Unklarheiten und unauflösbarer Widersprüche. Der Klappentext rät: „Eine Weltvision, als Irrfahrt durch Zeit, Raum und Identität, in sich nach und nach zu einem rätselhaften Puzzle zusammensetzenden Fragmenten verschiedener Blickwinkel erzählt Fetzen einer Wirklichkeit, die sich auf Obsessionen, Macht und Bilder gründet: die Sehnsucht der Menschen nach einem, der sie führt, und ihr Untergang, wenn sie tatsächlich einem folgen; die Unterwerfung und die Revolution; der tägliche Kampf des Einzelnen gegen die Anderen und sich selbst. Ein bildhaftes Nachspüren der inneren Verfassung der heutigen Welt.“ Fast richtig gelegen? Ob das nicht ein bisschen zu viel des Konzepts ist? Wird es eingelöst? Wer mag das entscheiden ... Manchmal fühle ich mich beim Lesen an das Buch „Die Geige (die Geige)“ von Andreas Slominski erinnert. Ein Verzeichnis bizarrer Zusammenhänge, ein Kompendium des Dahingestellten, miteinander Verwobenen, eine Verkettung unglücklicher Umstände. Etwas, das in seiner Existenz als Behauptung dasteht und als solche ein Klotz ist, an dem man nicht vorbeikommt, in dem man aber auch nicht hineinkommt und den man nicht so einfach hinter sich lassen kann. Der zweite Text namens „Der Sturz“ erklärt u. a., was das Meer ist. Er verhält sich prosaischer, ist Singsang einer Halluzination, geradezu lyrisch darin. Was denn nun? Beim Lesen fühlt man sich in eine Abseite eingesperrt? Kann man das sagen? Nein. Und doch stimmt es. Surreale Brocken in einer ansonsten klaren Suppe, die jemand versalzen hat, der sich im Traum die Realität eingefangen hat. Wie einen Virus. Dabei geht es (laut Klappentext), um „eine Frau und ihre Wahrnehmung der Welt: eine ständige Bedrohung, die aus ihr selbst kommt und sie in Gefahr bringt, die Kontrolle über die Wirklichkeit zu verlieren – traumatische Vergangenheiten, die immer wieder ungehindert in die Gegenwart einbrechen und ihre Wahrnehmung (zer-)stören – die Unheilbarkeit und die weitreichenden Konsequenzen einer schweren seelischen Verletzung für die Identität eines Menschen, erzählt von ihm selbst.“ Ja, doch, darum könnte es gehen ...

Im Internet findet sich ein (am 12. 11. 2005 im „Spectrum“ veröffentlichter) Text zum Thema „Was ich lese“, in dem der Autor Johannes Weinberger schreibt: „Die Bücher des Franzosen Alain Robbe-Grillet, der Ikone des Nouveau Roman (und einer meiner größten Lehrmeister und Seelenverwandten im Schreiben), sind mathematisch genau konstruierte und zugleich irrational (alp)traumhafte Irrgärten, die den Leser atemlos von Ebene zu Ebene, von Identität zu Identität, von Spiegelbild zu Spiegelbild jagen und hinter jeder Ecke mit einer neuen überraschenden Abzweigung aufwarten. Lässt man sich auf dieses Spiel ein, führt einen der Autor in beängstigende (und ungemein spannende) Regionen des Zweifels an der eigenen Wahrnehmung der Welt und des Ich. ... Robbe-Grillets Figuren, die kaum Tiefe aufweisen, sondern eher Scherenschnitten oder starren Puppen gleichen, vermitteln gerade dadurch ein selten authentisches Gefühl einer zutiefst menschlichen Erfahrung: das ohnmächtige Verlorensein in einer zweifelhaften Wirklichkeit. ... Alain Robbe-Grillet ist für mich einer der geistig mutigsten und luzidesten Autoren (und Visionäre) des 20. Jahrhunderts und darüber hinaus.“ Johannes Weinberger, der als freier Autor und Sänger in Wien lebt, hat mit „Mara / Mara“ (2004) und „Ich zähle zornig meine Schritte“ (2003) bereits zwei Bücher im Luftschacht-Verlag veröffentlicht. Rainer Maria Spangl, der u. a. in Wien Malerei studierte, steuerte asketisch gehaltene und ausdrucksstarke Zeichnungen zu diesem Band bei. Ich werde dieses Buch noch öfter in den Händen halten ... es beschäftigt weit über das Lesen hinaus, ohne Konkretes zu hinterlassen. Außer Zweifel und Fragen, an die man sich kaum detailliert erinnern kann. Es ist das beim Lesen entstehende Gefühl, welches das Buch zu einem besonderen Erlebnis macht. Und das gehört jedem persönlich.

 

Carsten Klook

 

Johannes Weinberger: Hinter dem Sichtbaren / Der Sturz, Luftschacht Verlag 2006

 

Cohen+Dobernigg Buchhandel

 

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